Marco Richter ist erst 22 Jahre alt, kann aber bereits auf eine bewegte Karriere zurückblicken. Mit vielen Höhen - und einer kleinen, frischen Delle.
Marco Richter schlägt die Hände vors Gesicht, rauft sich das kurze Haar und möchte wohl gerne im Boden versinken. Kurz zuvor war ihm ein Missgeschick unterlaufen, das jeden Offensivspieler nachts schweißgebadet aufwachen lässt: Aus rund sieben Metern hatte der junge Angreifer des FC Augsburg das leere Mainzer Tor verfehlt, eine Chance beim Stand von 0:0 auf dem viel zitierten Silbertablett liegen gelassen.
Etliche Medien deklarierten die Aktion in der Folge als "Fehlschuss des Jahres", teilweise wurden sogar Parallelen zur vergebenen Chance von Frank Mill gezogen, dem 1986 im Trikot von Borussia Dortmund gegen den FC Bayern ein noch viel spektakulärer Fauxpas unterlaufen war, als er den gegnerischen Schlussmann bereits ausgespielt hatte und die Kugel aus kürzester Distanz an den Pfosten bugsierte.
Der Unterschied zur historischen Mill-Möglichkeit lag jedoch nicht nur in der schwierigeren Abschlussposition Richters, sondern auch darin, dass dem Augsburger in der Folge noch ein Treffer gelang, die Fuggerstädter am Ende sogar mit 2:1 die Oberhand behielten, während Dortmund damals mit einem 2:2 vorlieb nehmen musste.
Marco Richter: "Normalerweise mache ich solche Dinger blind"
Auch deshalb kann Richter besagte Szene inzwischen mit Humor nehmen. "Ich habe sie mir danach noch acht bis zehnmal angeschaut. Eine Erklärung, was da los war, gibt es aber nicht. Normalerweise mache ich solche Dinger blind", sagt er im exklusiven Gespräch bei einem ungeplanten Treffen mit SPOX und Goal in der Allianz Arena. "Es war extrem wichtig, dass ich in dem Spiel noch getroffen habe. Das war auch, was ich mir nach dem Fehlschuss vorgenommen habe: 'Marco, du musst noch mal treffen.' Und, dass wir irgendwie noch als Sieger vom Platz gehen müssen."
Obwohl sein Wunsch erfüllt wurde, war Richters Handy nach dem Abpfiff "voll mit Nachrichten. Enge Freunde haben mir geschrieben, ganz liebe Nachrichten. Auch Mannschaftskollegen aus der U21. Ein paar Jungs haben mir natürlich auch Sprüche gedrückt - fragten, ob ich schon einen Termin beim Augenarzt gemacht hätte. Aber dahinter waren dann Emojis ohne Ende, vor allem Zwinkersmileys. Also, alles gut".
Tatsächlich hat der Linksaußen keinen Grund, wegen einer unglücklichen Aktion zu hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Bislang kann Richter schließlich auf einen steilen Aufstieg zurückblicken. Die Fußballschuhe schnürte er zunächst beim SV Ried, einem kleinen Verein unweit seiner schwäbischen Geburtsstadt Friedberg. Schon früh kristallisierte sich heraus, dass der Junge über enormes Potenzial verfügt, das selbst dem FC Bayern nicht verborgen blieb.
Richter: Bayern-Zusage "war absolut geil!"
"Ich habe mit Ried ein Turnier in Bachern gespielt, das wir gewonnen haben", erzählt Richter: "Dann kamen Mitarbeiter von Bayern München zu mir und haben mich zum Talenttag eingeladen. Mein Papa hat dann alles organisiert." Trotz riesiger Konkurrenz überzeugte der damals sieben Jahre alte Richter die Scouts des deutschen Rekordmeisters. "Da waren gefühlt 500 Kinder auf dem Kunstrasen. Aus jedem Jahrgang wurden zwei Spieler ausgesucht. Das war ein Tag, den ich nie vergessen werden. Das war absolut geil!"
Sieben Jahre lang durchlief Richter fortan sämtliche Auswahlmannschaften des FCB, wurde von seinen Eltern Tag für Tag von Mering, dem Wohnort der Familie, in die bayrische Landeshauptstadt zum Training gefahren, ehe er sich zu einem Wechsel nach Augsburg entschloss. "Die Spielzeit in der U14 wurde weniger. Dann habe ich mich mit meiner Familie zusammengesetzt und wir haben gesagt, dass wir das nicht mehr möchten", erklärt Richter den Schritt.
Beim FCA erhielt er die erhoffte Spielzeit, knipste in sämtlichen Jugendteams und war mit 24 Toren in 16 Spielen entscheidend daran beteiligt, dass der U19 nach einem Jahr Bundesliga-Abstinenz der sofortige Wiederaufstieg in die höchste A-Jugendspielklasse gelang.
imago imagesRegionalliga-Rekord: Richter erzielte sieben Treffer bei FCA-Schützenfest
Im Mai 2015, also im Alter von 17 Jahren, durfte Richter erstmals für die Zweitvertretung der Schwaben in der Regionalliga Bayern ran. Gleich in seinem ersten Spiel bei der Reserve vom FC Ingolstadt (1:2, Anm. d. Red.) gelang dem Stürmer sein erstes Tor. In der darauffolgenden Saison steuerte er für Augsburg II in 18 Spielen sieben Treffer bei.
Überregionale Bekanntheit erlangte Richter erstmals am 30. Juli 2016. "Wahnsinn! 18-jähriger Bubi trifft bei Rekord-Sieg siebenmal", titelte etwa die Hamburger Morgenpost, nachdem Richter gegen Seligenporten (12:0) mit einem Siebenerpack geglänzt hatte.
In jener Spielzeit stand insgesamt eine beeindruckende Ausbeute zu Buche: 24 Tore in 27 Spielen gelangen Richter in seinem ersten offiziellen Herrenjahr. "Das war eine geile Saison, die gefühlt wie im Flug verging, rasend schnell", erinnert er sich.
Während die Rufe nach einer Berufung Richters in die Profi-Mannschaft lauter wurden, traten die Verantwortlichen damals bewusst auf die Bremse. "Das wäre noch zu früh", sagte Augsburg-Manager Stefan Reuter. "Er hat letztes Jahr noch in der A-Jugend gespielt. Er soll sich in Ruhe entwickeln und sich über die U23 empfehlen."
Richter empfahl sich eindrucksvoll und schnupperte erstmals am achten Spieltag der Saison 2017/18 drei Minuten Bundesligaluft gegen die TSG 1899 Hoffenheim. Erstmals als Torschütze in Deutschlands Beletage trat er beim 3:0-Sieg über Eintracht Frankfurt in Erscheinung, in seinem zweiten Profi-Einsatz.
Marco Richter: "Cristiano Ronaldo ist mein absolutes Vorbild"
Inspiration auf seinem Weg nach oben holte sich Richter übrigens bei einem ganz besonderem Kollegen seiner Zunft: "Dadurch, dass ich Offensivspieler bin, ist Cristiano Ronaldo mein absolutes Vorbild. Ich schaue oft YouTube-Videos von ihm, achte auf seine Schusstechnik. Sein Schuss ist extrem gefährlich für Torhüter und unberechenbar. Ich habe irgendwann angefangen seine Schusstechnik nachzumachen."
Die YouTube-Sessions zahlten sich schnell aus. Mittlerweile hat sich der einstige Rohdiamant zu einem etablierten Bundesliga-Spieler gemausert. In der laufenden Saison stand er wettbewerbsübergreifend zwölfmal auf dem Platz, wobei ihm drei Tore gelangen.
Im vergangenen Sommer spielte sich Richter zudem auf europäischer Bühne in den Fokus, als er mit der deutschen U21-Nationalmannschaft in Italien und San Marino Vize-Europameister wurde und besonders in den ersten beiden Partien mit drei Toren und zwei Vorlagen zu gefallen wusste.
Für seine Zukunft hat er ganz konkrete Pläne: "Ich weiß, wohin ich will. Ich möchte irgendwann Champions League spielen", sagte Richter. Die Passion für die Königsklasse habe ihn auch an diesem Mittwochabend in die Allianz Arena getrieben, um das Spiel der Münchner gegen Tottenham Hotspur (3:1) zu verfolgen.
Marco Richter: Champions-League-Hymne? "Da bekomme ich Gänsehaut"
Richter führt aus: "Ich schaue oft Fußball, vor allem solche Spiele. Ich war auch in der vergangenen Saison hier, als Bayern gegen Liverpool gespielt hat. Ich liebe solche Champions-League-Abende. Es ist ein berauschender Moment, wenn die Hymne gespielt wird. Da bekomme ich Gänsehaut, obwohl ich ja nur auf der Tribüne sitze. Ich will unbedingt mal auf dem Platz stehen und sie als aktiver Spieler hören."
Auch eine Nominierung vom Bundestrainer sei für ihn ein großes Ziel. "Ich werde alles dafür geben, irgendwann zur A-Nationalmannschaft zu gehören. Vielleicht über den Weg Olympia im kommenden Sommer."
Sollte sich Richter weiterhin derart konstant entwickeln, dürfte der Traum vom Nationalteam durchaus realistischer Natur sein. Daran wird auch der Fehlschuss gegen Mainz nichts ändern.
Außerdem: Missgeschicke passieren. Selbst denen, die später zu Idolen einer ganzen Generation avancieren. "Als ich im Internet nach meinem Fehlschuss gegoogelt habe, habe ich ein Video von Cristiano Ronaldo gefunden, der nach einer Vorlage von Ryan Giggs gegen Sheffield aus vier Metern drüber geschossen hat. Da war er ungefähr so alt wie ich. Es war irgendwie beruhigend, dass das selbst den Allerbesten schon mal passiert."