Es gibt Weichenstellungen, die den Lauf der Geschichte komplett hätte ändern können. Im Fußball gehört definitiv die gescheiterte Zusammenarbeit zwischen Jürgen Klopp und dem Hamburger SV dazu. Viel weiter hätten sich beide Parteien in den vergangenen zwölf Jahren seitdem kaum auseinanderbewegen können.
Klopp feierte vor eineinhalb Wochen den größten Erfolg seiner Karriere, als er nach dem Champions-League-Triumph im Vorjahr den FC Liverpool zum ersten Premier-League-Triumph seit 30 Jahren verhalf. Wenige Tage später ereignete sich beim einst ruhmreichen Hamburger SV die nächste Pleite, als der ehemalige Europacupsieger durch ein 1:5-Heimdebakel gegen den SV Sandhausen zum zweiten Mal hintereinander die Rückkehr in die Bundesliga verpasste.
"Mit Klopp würden wir heute anders dastehen"
Beide Ereignisse wären vielleicht nicht eingetreten, wenn Klopp vor zwölf Jahren mehr auf seine Garderobe geachtet hätte und kein Raucher gewesen wäre. "Hätten wir Jürgen Klopp damals verpflichtet, wären wir vielleicht nicht ins Champions-League-Finale eingezogen, aber der Verein würde heute wahrscheinlich anders dastehen", sagte der ehemalige HSV-Vorstandsboss Bernd Hoffmann schon vor einigen Jahren.
Aber von Beginn an. Anfang 2008 suchten die Hanseaten, damals mit Spielern wie Rafael van der Vaart, Nigel de Jong und Vincent Kompany sportlich auf dem Weg in die Champions League, nach einem Nachfolger für Huub Stevens. Der hatte bereits im November angekündigt, seinen auslaufenden Vertrag aus privaten Gründen nicht zu verlängern.
Hoffmann konnte Beiersdorfer nicht von Klopp überzeugen
Hoffmann schlug daher seinen Vorstandskollegen Dietmar Beiersdorfer und Katja Kraus den aufstrebenden Trainer Jürgen Klopp als Nachfolger vor, der zu diesem Zeitpunkt mit Mainz 05 in der Zweiten Liga um den Aufstieg spielte. In den ersten Februartagen reiste das Trio zum Vorstellungsbesuch in Klopps Haus in Mainz-Gonsenheim. Während Hoffmann und Marketingvorstand Kraus bei Pizza, Kuchen und Kaffee dem Gastgeber, seiner Frau Ulla und Berater Marc Kosicke in dessen Wohnzimmer von den Möglichkeiten in Hamburg vorschwärmten, blieb Sportchef Beiersdorfer zurückhaltend. Er frage sich, ob zu einem Traditionsverein wie dem HSV ein Trainer mit Spitznamen "Kloppo" passe, soll er Teilnehmern zufolge gesagt haben. Klopp antwortete demnach lächelnd: "Haben Sie nicht einen Sportdirektor namens Didi?"
Doch auch Klopps Schlagfertigkeit konnte Beiersdorfer nicht überzeugen. "Bernd Hoffmann und Katja Kraus wollten mich. Aber Didi Beiersdorfer konnte sich einfach nicht entscheiden. Also hatte er einen Scout losgeschickt, damit der mal guckt, wie ich ausschaue. Und dann war man überrascht, dass ich so aussehe, wie ich aussehe", erzählte Klopp vor einigen Jahren der Bild.
Geheime Observierung der Kandidaten von morgens bis abends
So entschied man sich zu einer geheimen Observierung der Kandidaten Klopp, Fred Rutten (damals PSV Eindhoven), Christian Gross (FC Basel) und Bruno Labbadia (Greuther Fürth). Die ausgesandten Spione beschatteten das Quartett täglich von morgens acht Uhr bis zum Feierabend und erstellten Dossiers über jeden einzelnen. Kriterien unter anderem: Pünktlichkeit, Kleidung und Erscheinen, Auftreten gegenüber Fans und Medien, Training, Taktik, Motivation - dafür wurden von den Scouts Punkte von eins bis vier vergeben. Die beste Bewertung erhielt Rutten, Klopp hingegen schnitt ziemlich schlecht ab.
"Der HSV hat so eine Art Casting gemacht: flapsiger Umgang mit der Presse, Unpünktlichkeit, Löcher in den Jeans, Raucher", berichtete Klopp später über die Ergebnisse, die er selbst aus der Zeitung erfahren hatte. Sogar sein Markenzeichen, der Drei-Tage-Bart, wurde gegen ihn angeführt. So schloss sich der HSV-Aufsichtsrat den Bedenken Beiersdorfers an und lehnte eine Verpflichtung des vermeintlich unseriösen Klopp ab. "In unserem Aufsichtsrat kam das Loch in der Jeans nicht gut an. Und wir Vorstände bekamen den klaren Hinweis, dass eine Verpflichtung von Jürgen Klopp keine gute Idee sei", sagte Hoffmann.
"Rauchen stimmt leider" - alles andere nicht
Als Klopp von den vermeintlichen Gründen seiner Ablehnung erfuhr, war er schwer verärgert. "Rauchen stimmt leider", gab er zu - alles andere aber eben nicht. So war es sein Ritual, immer als letzter den Trainingsplatz zu betreten. "Das hat mich damals sehr getroffen. Denn es gibt wahrscheinlich keinen pünktlicheren Menschen als mich." Und in einem Interview mit dem RND ergänzte er: "Unpünktlich ist eine absolute Unwahrheit. Ich war in meinem Leben nie unpünktlich, wenn ich es irgendwie verhindern konnte. Und was war das Letzte? Flapsig im Umgang mit der Presse. Ja, was soll das? Und dann noch der Spitzname Kloppo, verbunden mit der Frage nach Autorität."
Und weiter: "Ich finde das nicht respektlos. Als ich bei Mainz als Trainer anfing, waren die Spieler meine Mannschaftskollegen. Am nächsten Tag war ich ihr Trainer. Sollen die mich jetzt mit "Herr Klopp" ansprechen? In Hamburg dachte man, dass sie jemanden, den man mit 'Kloppo' anspricht, nicht respektieren können."
Stattdessen entschieden sich die Rothosen aber nicht für den später bei Schalke 04 gescheiterten, aber stets ordentlich gekleideten Rutten, sondern für dessen vereinslosen Landsmann Martin Jol - der nach einem Jahr und Platz fünf wieder ging. Nun kommt in Daniel Thioune der 19. Coach seitdem zum HSV, doch bislang konnte keiner den Absturz bis in die Zweitklassigkeit aufhalten. "Mit Jürgen Klopp hätte die gesamte Entwicklung des HSV sicher einen anderen Verlauf genommen", meinte Hoffmann rückblickend.
Klopp sauer auf HSV-Bosse: "Ruft nie wieder an"
Für Klopp war das Thema ein für allemal erledigt, nachdem er von den Beschattungen erfahren hatte. Zumal er sich zuvor sogar noch Wohnungen in Hamburg angeschaut hatte, weil Beiersdorfer ihn erst verspätet über die Absage informierte. "Ich habe damals gesagt: 'So, Freunde, falls noch Interesse besteht, wollte ich nur mal sagen: no way. Ruft nie wieder an, das mache ich nicht. Ich bin Fußballtrainer und wenn euch solche Sachen wichtig sind, seid ihr die Falschen. Dann können wir nicht zusammenarbeiten'", berichtete Klopp später über seinen Anruf bei den HSV-Bossen. "Wer in diesem Geschäft arbeitet, der muss wissen, wie ich arbeite. Da muss ich keinen Scout an die Linie beim Training stellen. Das ist dilettantisch."
Ein Jahr später musste Beiersdorfer nach einem Zerwürfnis mit Hoffmann gehen. Später kehrten beide zu unterschiedlichen Zeitpunkten als Vorstandsvorsitzende zum HSV zurück - und blieben erfolglos. Im Rückblick gesteht Beiersdorfer seine Fehleinschätzung bei Klopp ein. Der unpünktliche Raucher mit Drei-Tage-Bart ging daher im Sommer 2008 zum seinerzeit finanziell und sportlich schwächelnden BVB, der Rest ist bekannt: Zwei Meisterschaften, ein Pokalsieg und der Einzug ins Champions-League-Finale. "Manchmal muss man auch Glück haben im Leben", sagte Klopp später grinsend. Für den HSV gilt hingegen selbstverschuldet genau das Gegenteil.