BVB: Cedric van der Gun - der größte Pechvogel in der Geschichte von Borussia Dortmund

Jochen Tittmar
04. Januar 202215:39
Cedric van der Gun spielte von 2005 bis 2006 für den BVB.imago images / Team 2
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In der Saison 2005/2006 stand Cedric van der Gun im Kader von Borussia Dortmund. Obwohl er nur drei Pflichtspiele absolvierte, erinnern sich BVB-Fans noch heute an ihn - wegen seines bitteren Schicksals, das er in Dortmund erlitt.

Dieser Artikel erschien erstmals am 19. Januar 2021.

Die Geschichte von Cedric van der Gun bei Borussia Dortmund stammt aus einer Zeit, die heute unendlich weit weg erscheint. Der BVB hatte nach Jahren des größenwahnsinnigen Überflusses soeben eine finanzielle Pleite abgewendet und war dem vielzitierten "Vorraum der Pathologie" entkommen. Sportlich befand man sich an einem Nullpunkt und verkörperte biederes Mittelmaß.

Im zweiten Halbjahr der Saison 2004/2005 spielten die Westfalen unter Trainer Bert van Marwijk immerhin die bis dato beste Rückrunde der Vereinsgeschichte. Doch die war auch dringend nötig, denn nach den ersten 17 Spielen hatte man nur 18 Punkte und Platz 14 zustande gebracht. Im Sommer folgte die große Fluktuation.

Vier Neuzugängen, darunter in Dennis Gentenaar und Bernd Meier zwei Ersatztorhüter, standen zwölf Abgänge gegenüber. Spieler wie Ewerthon, der den BVB 2002 zur Meisterschaft schoss, oder Evanilson und Sunday Oliseh verließen den Verein. Lediglich 425.000 Euro konnte man investieren - in Flügelstürmer Delron Buckley von Arminia Bielefeld. Mehr war nicht drin, der Kader folglich dünn besetzt.

Noch schlimmer: Aufgrund des siebten Platzes im Vorjahr hatte Dortmund vor Saisonstart im UI-Cup die wirtschaftlich attraktive Möglichkeit, sich über Umwege für einen internationalen Wettbewerb zu qualifizieren. Gegen Sigma Olmütz schied man aber maximal kläglich aus (1:1, 0:0). Die aufkeimende Euphorie nach dem Run in der Rückserie war früh dahin.

BVB ohne Geld - Cedric van der Gun muss vorspielen

Die angespannte Finanzlage lastete sehr auf den Verantwortlichen, die ein alternativloses Sanierungskonzept aufgelegt hatten. Der seit 2001 als Schatzmeister tätige und im Februar 2005 zum neuen Geschäftsführer berufene Hans-Joachim Watzke machte keinen Hehl aus der misslichen Lage: "Es gibt zu diesem Weg des Sparens keine Alternative, weil uns niemand auch nur einen Euro mehr gibt. Der Etat ist um keinen Cent zu überschreiten."

Es mussten also Spieler her, die kaum etwas kosteten und dennoch einen Mehrwert boten. Spieler wie van der Gun (gesprochen: Chünn). "Ich kenne ihn noch aus seiner Zeit als Talent bei Ajax Amsterdam", erklärte van Marwijk, als der 26-jährige Flügelspieler drei Wochen nach Trainingsstart Ende Juli 2005 zum Probetraining in Dortmund aufschlug.

Van der Gun entstammte der Ajax-Schule, in der Saison 2000/01 erzielte er neun Tore in 33 Ligaspielen für die Niederländer. Der große Durchbruch in seiner Heimat gelang ihm aber nicht, über Den Bosch und Willem II landete van der Gun bei ADO Den Haag. Sechs Treffer in 26 Spielen genügten dem Verein nicht, um seinen auslaufenden Vertrag zu verlängern.

Van der Gun und das dreiwöchige BVB-Probetraining

"In Dortmund kannte mich nur van Marwijk. Daher haben wir vereinbart, dass ich ein paar Wochen mittrainiere, um auch allen anderen zu zeigen, dass ich gut genug bin, um einen Vertrag zu bekommen. Ich war sehr zuversichtlich, dass mir das gelingt", erinnert sich van der Gun im Gespräch mit SPOX und Goal.

Eine sportliche Perspektive war für ihn durchaus gegeben. Der beidfüßige und auf beiden Seiten einsetzbare Offensivspieler sollte dem BVB zu mehr Durchschlagskraft verhelfen, zumal Stürmer Nummer eins Jan Koller zu diesem Zeitpunkt etwas die Form fehlte und Konkurrenzkampf gerade auf den offensiven Flügeln in van Marwijks 4-3-3-System gern gesehen war.

Van der Gun machte in den gut drei Wochen, die sein Probetraining andauerte, einen soliden, aber keinesfalls herausragenden Eindruck. Sportdirektor Michael Zorc betonte mehrfach, dass man in dieser Personalie nicht unter Zeitdruck stünde. Als van der Gun dann in einem Testspiel gegen Al Wahda aus Abu Dhabi zweimal traf, lobte auch Zorc: "Er ist fitter und sein Spiel besser geworden."

Cedric van der Gun während seines ersten Pflichtspiels für den BVB beim MSV Duisburg.imago images / Team 2

Van der Gun über BVB-Vertrag: "Das Geld war mir egal"

Kurz darauf unterschrieb van der Gun, dem in der Eredivisie in 133 Spielen 27 Tore gelangen, einen Einjahresvertrag. Es sei ein "sehr, sehr leistungsbezogenes Angebot, seine Verpflichtung belastet uns finanziell nur minimal", sagte Zorc.

Van der Gun bekam die Nummer 16 und ein jährliches Grundgehalt von 100.000 Euro. Diesen Betrag konnte er über Prämien verdoppeln - im günstigsten Fall erhielt er somit etwas mehr als die Hälfte dessen, was der kurz zuvor gekündigte Merchandising-Chef des BVB einstrich. "Bei niederländischen Klubs hätte ich deutlich mehr verdienen können, aber das Geld war mir egal. Als Dortmund Interesse an mir zeigte, wollte ich unbedingt dorthin wechseln", erzählt van der Gun.

Van Marwijk, dessen Vertrag nach der starken Rückserie bis 2007 verlängert wurde, hoffte: "Wenn er das Niveau hat, das er bei Ajax Amsterdam hatte, dann ist er eine sehr gute Verstärkung." Zwar lag diese Zeit bereits vier Jahre zurück, doch Dortmunds Risiko bei diesem Einkauf tendierte gegen Null. Für die beiden 21-jährigen Eigengewächse Salvatore Gambino und David Odonkor bedeutete der Niederländer neue Konkurrenz. Odonkor wollte gar gehen: "Ich will wieder regelmäßig spielen, in Dortmund habe ich dann wohl keine Chance mehr."

Van der Gun: Kreuzbandriss im zweiten Spiel für den BVB

Van der Gun war kaum BVB-Spieler, folgte der nächste Rückschlag für den Klub: Pokal-Aus in Runde eins bei Zweitligist Braunschweig. In der Woche darauf absolvierte van der Gun für die Amateure des BVB sein erstes offizielles Spiel, beim Oberliga-Topduell gegen Gütersloh wurde er beim 3:0-Sieg auf der linken Seite aber kaum einbezogen. Wenig später debütierte er im deutschen Oberhaus: Am 3. Spieltag beim 1:1 in Duisburg, dem 400. Bundesligaspiel von Abwehrchef Christian Wörns, kam van der Gun 60 Sekunden nach Lars Rickens Führungstor für Ebi Smolarek in Minute 62 ins Spiel - und hinterließ einen guten Eindruck.

Das Schicksal hinderte ihn jedoch daran, diesen zu bestätigen. Stattdessen passierte etwas, was van der Gun bis heute zum wohl größten Pechvogel der Dortmunder Vereinsgeschichte machte. Bei Dortmunds erstem Saisonsieg zu Hause gegen Köln am 4. Spieltag zog sich Buckley eine Blessur an der Achillessehne zu. Van der Gun ersetzte ihn in der 40. Minute.

Vier Zeigerumdrehungen nach der Pause jedoch der Schock: Van der Gun verdrehte sich das rechte Knie. Diagnose: Riss des vorderen Kreuzbandes. "Ich bin etwas in die Luft gesprungen, um einen Ball zu einem Mitspieler zurück zu spielen. Als ich wieder am Boden aufkam, verdrehte ich mir das Knie und wusste sofort, dass etwas Schwerwiegendes passiert ist. Das lief alles sehr unglücklich für mich", blickt van der Gun zurück.

BVB-Trainer Bert van Marwijk nach dem Ausscheiden im Pokal gegen Eintracht Braunschweig.Friedemann Vogel/Bongarts/Getty Images

Cedric van der Gun: Seine Karriere im Überblick

ZeitraumVerein
1998-2003Ajax Amsterdam
1999-2000FC Den Bosch (Leihe)
2002-2003Willem II Tilburg (Leihe)
2003-2005ADO Den Haag
2005-2006Borussia Dortmund
2006-2009FC Utrecht
2009-2011Swansea City
2012-2014FC Utrecht

Es war nicht die erste Verletzung dieser Art für den BVB. Im Juli erwischte es bereits das 17-jährige Talent Sebastian Tyrala, nur Wochen nach van der Guns Kreuzbandriss fielen auch Koller und Ricken mit derselben Blessur aus. Ersatzkeeper Meier brachte seinen Kreuzbandriss aus Ahlen mit.

Van Marwijk gingen die Offensivspieler aus, auch Buckley und Gambino waren lädiert. Odonkor kam so zwar zu mehr Spielzeit, doch die klaffende Lücke im Sturm war riesig. Zorc versuchte im Winter, Alexander Frei vorzeitig aus Rennes nach Dortmund zu lotsen, musste sich am Ende aber doch noch bis Sommer gedulden. Ein weiterer Kandidat erhitzte dann die Gemüter und sorgte für wochenlange Diskussionen.

Der erst im Sommer nach einem Jahr bei Schalke für 3,5 Millionen Euro zu Besiktas transferierte Ailton wurde vom BVB ins Visier genommen. Der Angreifer, bis dato mit 102 Bundesligatreffern für Bremen und S04, stand in Istanbul schon wieder vor dem Aus. "Grundsätzlich schließe ich das Thema Ailton nicht aus. In unserer Situation muss es doch legitim sein, über ihn nachzudenken", sagte Zorc.

Die Fans gingen angesichts seiner Schalker Vergangenheit auf die Barrikaden und machten ihrem Ärger mit wütenden Transparenten Luft. Auch einige BVB-Profis um Christoph Metzelder und Wörns ("Ailton ist keine linke Bazille") rührten kräftig die Werbetrommel für den Brasilianer. Das Ergebnis: Ailton lief in diesen Wochen nur beim Abschiedsspiel von Julio Cesar im Westfalenstadion auf. Er schloss sich letztlich dem HSV an - und die Borussia holte in Matthew Amoah eine weitere Bekanntschaft van Marwijks. Spoiler: Amoah sollte für den BVB nicht ein Tor schießen.

Cedric van der Gun während einer Trainingseinheit des BVB.

Van der Gun spielte nur 67 Minuten für den BVB

Van der Gun hatte mit all diesen Wirren freilich wenig zu tun. Er wurde in Amsterdam operiert und verbrachte den ersten Teil der Reha in seiner Heimat, wo er mit einem vertrauten Physiotherapeuten zusammenarbeite. Anschließend pendelte er zwischen der Niederlande und Dortmund, bis er Mitte Januar 2006 nach nur vier Monaten Pause wieder ins Lauftraining einstieg.

Es dauerte aber noch gut 100 Tage, ehe er sein Comeback feierte - wieder für die BVB-Amateure, wieder gegen Gütersloh. Woche für Woche wurde er dort eingesetzt und steigerte sein Pensum, in der dritten Partie gegen Lotte gelang ihm der erste Treffer. Für die Profis steuerte er zwei Buden bei einem 9:0-Testspielsieg gegen die Stadtauswahl Soest bei.

Am 13. Mai war es dann so weit, am letzten Spieltag der Saison half Dortmunds Null-Risiko-Einkauf nach zuvor nur 37 Einsatzminuten wieder mit. Der finale Eindruck, den van der Gun im BVB-Trikot machte, war mehr als ordentlich. Beim FC Bayern wurde er in Minute 60 für Odonkor eingewechselt, die Westfalen lagen bereits mit 1:3 zurück.

BVB-Trainer van Marwijk wollte van der Gun behalten

"Ich weiß noch, dass mir van Marwijk beim Stand von 1:1 gesagt hat, ich solle mich aufwärmen, weil ich bald eingewechselt werde. Ich war natürlich richtig heiß, ein solches Spiel war eine große Sache für mich. Dann aber schossen die Bayern innerhalb von zwei Minuten zwei Tore und die Partie schien entschieden", sagt van der Gun.

Nur vier Minuten später legte er das 2:3 durch Philipp Degen auf, der ebenfalls wiedergenese Koller markierte gegen einen schaulaufenden Meister sogar noch das 3:3. "Am Ende hatten wir sogar noch eine große Chance, das Spiel mit 4:3 zu gewinnen", ärgert sich van der Gun noch heute.

Nur ein paar Tage später erzielte er sein letztes Tor für die Schwarzgelben - bei einer 1:4-Testspielpleite gegen den polnischen Klub Korona Kielce. Es half ihm nicht mehr. "Van Marwijk war nach der Saison sehr ehrlich zu mir. Er sagte, immer wenn ich trainieren und spielen konnte, war ich gut. Dieses Gefühl hatte ich auch. Er wollte mich daher behalten", sagt van der Gun.

Van der Gun: "Ich habe die Zeit beim BVB sehr genossen"

Sein Dilemma: Der klamme BVB hatte schon die Zusagen der Neuzugänge Frei und Nelson Valdez. "Es mussten also noch Spieler gehen, bevor man mir einen neuen Vertrag anbieten konnte. Ich sollte geduldig sein", erinnert sich van der Gun. "Eine gewisse Zeit wartete ich auch, doch es wurde niemand verkauft - und dann erreichte mich ein sehr gutes Angebot des FC Utrecht. Kurz danach verließen dann innerhalb eines Monats Odonkor und Buckley den Verein..."

Van der Gun blieben die Verletzungen auch in Utrecht treu. 2011 stieg er noch mit Swansea City in die Premier League auf und beendete drei Jahre später die Karriere. Ob er sein ernüchterndes Jahr in Dortmund als das bitterste seiner Karriere ansieht? Van der Gun widerspricht deutlich. Der heute 41-Jährige schwärmt am Telefon vielmehr davon: "Ich kann mich immer noch an vieles genau erinnern. Trotz der Verletzung habe ich die Zeit dort sehr genossen."