Wenn RB Leipzig einen Angstgegner hat, dann ist es der BVB. Fast 30 Prozent ihrer bisherigen elf Bundesligaheimniederlagen kassierten die Roten Bullen gegen die Dortmunder (drei von elf). Ganz gleich, in welcher Form sich beide Mannschaften beim direkten Aufeinandertreffen in der Red Bull Arena befinden: Für den BVB geht irgendwie immer was bei den Sachsen.
Und so war es auch dieses Mal. Da war auf der einen Seite der BVB, der unter dem neuen Trainer Edin Terzic erst in der Vorwoche begonnen hatte, in Ansätzen zu überzeugen. Auf der anderen Seite stand Leipzig mit der besten Defensive der Liga (9 Gegentreffer) auf dem Sprung an die Tabellenspitze nach dem Patzer der Bayern in Gladbach.
Und so begannen die Roten Bullen auch das Spiel. Dominant, aggressiv, mit viel Ballbesitz. "Permanent gestresst" worden seien die Dortmunder in der ersten halben Stunde, wie BVB-Kapitän Marco Reus befand. Erholungspausen in eigenen Ballbesitzphasen? Quasi Fehlanzeige. "Gefühlt 110 der 112 Fehlpässe" im Dortmunder Spiel habe er in Halbzeit eins gesehen, erklärte Terzic.
Doch schon da begann sich das Blatt zu wenden, was auch an einer erzwungenen Umstellung lag. Dass der BVB, als er das Spiel dann mithilfe dreier Leistungsexplosionen zu seinen Gunsten entschied, nicht schon zurücklag, lag wiederum daran, dass Mats Hummels offenbar erhört wurde. Die Erkenntnisse zum Topspiel.
1. Hummels wird erhört: BVB entdeckt sein "Drecksack-Gen"
Der Abwehrchef des BVB war der lauteste in Leipzig. Ständig gab Hummels Kommandos, korrigierte seine Mitspieler lautstark, schrie Lob für gute Aktionen heraus. Ja, der 32-Jährige war beim 3:1-Sieg der Dortmunder nicht zu überhören.
Hummels hatte sich in der Ära Favre rhetorisch vielleicht zurückgehalten. Doch damit war spätestens Anfang der Woche Schluss. Da forderte er seine Mitspieler in einem Interview mit der Sport Bild dazu auf, endlich weniger zu zocken, "als wären wir in Fünf-gegen-fünf-Spielformen wie die Kids beim Hallenfußball". In den vergangenen eineinhalb Jahren hätten sich Fehler eingeschlichen, die er "Kinderkrankheiten" genannt habe.
Kurzum: Hummels wollte endlich "Erwachsenenfußball" von seinen Mitspielern sehen. Er wollte sehen, dass sie Zweikämpfe gewinnen; konzentrierte, trockene Defensivarbeit verrichten; auch mal hart, unangenehm, schmerzhaft und eklig spielen. Salopp formuliert: auch mal ein bisschen Drecksack auf dem Platz sein.
Und jenes "Drecksack-Gen" entdeckte die als hochtalentiert, aber in giftigen Duellen zu durchsetzungsschwach abgestempelte BVB-Mannschaft am Samstagabend gerade in der ersten Halbzeit gegen dominante Leipziger. Diese schnürten die Dortmunder phasenweise in der eigenen Hälfte ein, waren spielerisch zunächst klar besser.
Und die Gäste? Die hielten nicht etwa mit Schönspielerei oder den eigenen fußballerischen Qualitäten dagegen, sondern gewannen übers Kämpfen, Kratzen, Beißen einen Zugang zum Spiel.
BVB-Trainer Terzic: Fangesänge als Slogan statt Fallrückzieher im Training
55 Prozent der direkten Duelle auf dem Platz gingen in der ersten Halbzeit an die Dortmunder, auch die Foulstatistik sprach am Ende deutlich für den BVB (12:8). Und nicht selten protestierte die Leipziger Bank lautstark nach einem harten, aber fairen Einsteigen eines Dortmunders, die auch von einer großzügigen englischen Linie von Schiedsrichter Daniel Siebert profitierten.
"Wenn es einer Mannschaft wehtut, ist das nie schön und wir haben heute versucht ihnen wehzutun", sagte Emre Can nach der Partie, angesprochen auf die gesunde Härte, die die Dortmunder an den Tag gelegt hatten, um sich peu a peu in das Spiel hineinzufinden.
Weil zuletzt "Leichtigkeit und Magie gefehlt" haben, sagte BVB-Trainer Edin Terzic nach dem Spiel, habe man zunächst "an der Intensität" gearbeitet: "Es ist logisch, dass wir im Training nicht anfangen, Tore mit der Hacke oder per Fallrückzieher zu üben", erklärte der 38-Jährige weiter.
Stattdessen habe er die Mannschaft daran erinnert, was die Dortmunder Fans für gewöhnlich bei jedem Spiel vor der Zeit der Geisterspiele zu singen pflegten: "Auf geht's Dortmund, kämpfen und siegen" - und das sei "genau der Slogan, den wir uns in den letzten Wochen erarbeiten wollten." Mit sichtbarem Erfolg.
2. Jadon Sancho: Das BVB-Sorgenkind ist keines mehr
"Was ist los mit Jadon Sancho?" Die Frage nach der Formkrise des in der vergangenen Saison noch mit 40 direkten Torbeteiligungen so famos aufspielenden Engländers war ein setig wiederkehrendes Element der Dortmunder Pressekonferenzen ab Oktober. Selbst Terzic musste sich dieser Frage noch im Dezember stellen.
Was er sagte, klang ähnlich wie das, was auch schon Sportdirektor Michael Zorc oder Terzics ehemaliger Chef Lucien Favre in der Causa erklärten. Der BVB werde Sancho jegliche Unterstützung zukommen lassen und "natürlich" mit ihm reden (Zorc). Außerdem müsse man es auch mal akzeptieren, wenn ein 20 Jahre junger Profi nach einem Jahr in Topform auch mal einen nicht so guten Monat habe (Favre).
Terzic wollte sich hingegen besonders der Frage widmen, "wie wir ihn besser in Position bringen und unterstützen können, damit er sich wohlfühlt". Und nach den vergangenen drei Pflichtspielen des BVB lässt sich sagen: Mission erfüllt.
Gegen Braunschweig im Pokal vor Weihnachten, gegen Wolfsburg am ersten Spieltag des neuen Jahres und auch gegen Leipzig am Samstag gelangen Sancho je eine Vorlage und ein eigener Treffer. Gegen Leipzig spielte er gerade im zweiten Durchgang wie aufgedreht und war Mitte der zweiten Halbzeit an sieben von acht Dortmunder Abschlüssen direkt beteiligt. Seine 34 Sprints waren außerdem Höchstwert aller Dortmunder Spieler.
Die Leistungssteigerung des englischen Nationalspielers ist klar erkennbar und hängt durchaus auch mit Terzics Maßnahmen zusammen. Der stellte das System auf ein 4-2-3-1 um, in dem die Flügelspieler breit stehen und in die Tiefe gehen sollen. Das kommt Sancho sehr entgegen.
Terzic hat offenbar Wort gehalten, als er versprach, Sancho besser in Position bringen zu wollen, damit dieser sich wohlfühlt. Das BVB-Sorgenkind des zweiten Spieljahres 2020 ist also zunächst einmal keines mehr.
3. Emre Can ist für das BVB-Spiel unter Terzic besser als Witsel
Emre Can hatte zuletzt unter Terzic einen schweren Stand. Nur in einem der bisherigen vier Spiele unter der Leitung des Favre-Nachfolgers stand er in der Startelf - und das auch noch bei der 1:2-Niederlage bei Union Berlin, wo ausgerechnet er beim späten Gegentreffer nicht gut aussah.
Auch gegen Leipzig drückte der Nationalspieler zunächst die Bank. Knapp 30 Minuten sah er mit an, wie die Leipziger den BVB spielerisch dominierten. Dann aber trat Witsel in jener verhängnisvollen 28. Minute kurz an und sank zu Boden. Die Achillessehne. Nach einer kurzen Behandlung gaben die Betreuer das Zeichen zum Wechsel. "Es sieht wohl nicht gut aus", sagte Reus hinterher über den Gesundheitszustand des Belgiers, der wohl länger fehlen wird.
Auf ungeplante Weise kam Can also zu seiner nächsten Bewährungschance unter Terzic. Es war ein erzwungener Wechsel, der die Trendwende einleitete. Denn ab der 30. Minute änderte sich die Statik des Spiels. Der BVB positionierte sich mit dem vertikaler als Witsel denkenden Can höher, um circa fünf Meter, wie der Spieler selbst später preisgab. Fünf Meter, die Gold wert waren.
"Ich sollte offensiver sein, viele Bälle fordern und versuchen, den Ball nach vorne zu treiben", erklärte der 26-Jährige seine von Terzic zugewiesene Rolle - und der war hinterher voll und ganz zufrieden. "Großes Lob an Emre. Es war nicht leicht für ihn in den letzten Wochen, aber er war sofort da, wo wir ihn heute gebraucht haben", sagte Terzic.
Can gewann 75 Prozent seiner Zweikämpfe - Bestwert bei den Dortmundern. Zwar büßte der BVB mit dem Tausch von Witsel auf Can rein statistisch an Passsicherheit ein, das machte sich jedoch im zweiten Durchgang nicht bemerkbar. Seine Dynamik und schnelle Überbrückung des Mittelfeldes hingegen sehr wohl.
Womöglich wäre Can im Vergleich zu Witsel neben Abräumer Thomas Delaney von Anfang an als Bindeglied zwischen der offensiven Dreierreihe und der Viererabwehrkette die bessere Wahl gewesen, schließlich läuft der Belgier seiner grandiosen Form, die er noch zu Beginn seiner BVB-Zeit an den Tag legte, schon seit längerem hinterher. Außerdem ist das neue 4-2-3-1-System für ihn als horizontalen Spieler, Organisator und Ballverteiler eher schwierig zu spielen mit einem defensiv orientierten Delaney.