Dieser Artikel erschien erstmals am 30. März 2021
"Das muss uns erstmal jemand nachmachen", frohlockte Borussia Dortmunds Manager Michael Meier. "Wenn uns dafür keiner auf die Schulter klopft, machen wir es eben selbst." Etwas nüchterner, aber dennoch euphorisch äußerte sich BVB-Cheftrainer Matthias Sammer. Eine "optimale Lösung" sei der Transfer von Marcio Amoroso.
Es war das Jahr 2001 und auf dem Transfermarkt hatte die Borussia schon zuvor für Aufsehen gesorgt: Im Januar kam der 20-jährige Tomas Rosicky für 25 Millionen Mark von Sparta Prag, kurz vor Amorosos Transfer hatte auch Stürmer Jan Koller am Rheinlanddamm unterschrieben. Amoroso jedoch war stolze 30 Millionen Mark teurer als Koller: 50 Millionen betrug das Gesamtvolumen der Verpflichtung des Brasilianers von der AC Parma - es war damals der teuerste Transfer der Bundesligahistorie.
Was zu diesem Zeitpunkt noch keiner ahnte: Amoroso wandelte in Dortmund zwischen Genie und Wahnsinn und trieb den Verein mit seinem erratischen Verhalten vor sich her. "Ich war eine echte Diva", sagte er viele Jahre später im kicker. Wer sich bewusst sei, ein "ein spezielles Talent" vorweisen zu können, der "will manchmal auch entsprechend behandelt werden", so der Angreifer.
Bereits in Parma, wohin Amoroso 1999 als amtierender Serie-A-Torschützenkönig (22 Treffer) wechselte, war er in Ungnade gefallen. Nach drei schweren Verletzungen und einer Ausfalldauer von vier Monaten mehrten sich die Zweifel, ob der damals 27-Jährige wieder zu alter Stärke zurückfinden könne. Der Verein verlor schließlich die Geduld: Parma-Coach Renzo Ulivieri ließ Amoroso über die Presse wissen, dass er in Zukunft nicht mehr mit ihm plane.
BVB holte Marcio Amoroso für 50 Millionen Mark
Dortmund, das sich bereits zwei Jahre zuvor um Amoroso - damals in Diensten von Udinese Calcio - bemühte, fädelte einen klugen Deal ein: Parma erhielt BVB-Defensivspieler Evanilson für knapp 30 Millionen Mark, der Brasilianer wurde allerdings umgehend für sechs Millionen und zwei Spielzeiten ausgeliehen. Da die Transfersummen verrechnet wurden, ging Amoroso letztlich für eine Zuzahlung von lediglich 15 Millionen zum BVB.
"Wir haben ihn bei Udinese gesehen. Sein damaliger Teamkollege Oliver Bierhoff gab ein positives Urteil über Amorosos Qualitäten ab. Das Interesse war stets da", erinnert sich Meier im Gespräch mit SPOX und GOAL und erklärt, dass der Deal "ein Meilenstein in der Transferpolitik des BVB" gewesen sei. Damals bescheinigte Meier dem Neueinkauf größeres Potenzial als dem langjährigen Bundesligattorjäger Giovane Elber.
Rückblickend betrachtet hätte man rund um Amorosos Start in Westfalen ahnen können, in welche Richtung es bei ihm gehen würde. Der Brasilianer galt als launischer, engstirniger Zeitgenosse und sagte zu seinem Wechsel nach Dortmund: "Ich möchte die Fans verzaubern, mit meiner Leidenschaft, mit meinen Tricks und meinen Toren." Was nicht zu Amorosos Welt gehöre, das seien "Kraft- und Körpereinsatz". Er schlussfolgerte: "Es wäre sinnlos, wenn ich plötzlich versuchen würde, wie ein Deutscher zu spielen."
BVB: Marcio Amoroso schoss Dortmund zum Meistertitel 2002
Amoroso spielte durchgehend wie ein Brasilianer und hatte damit auf Anhieb durchschlagenden Erfolg. Zum Saisonauftakt 2001/02 erzielte er beide Tore beim 2:0-Erfolg gegen Nürnberg, zwei Wochenenden später hatte er bereits vier Treffer auf dem Konto. Amorosos Spiel war von Leichtigkeit, Eleganz und seinem Killerinstinkt vor dem Kasten geprägt. "Keiner spielt so schön wie Amoroso", sang die Südtribüne.
Auch die Mitspieler waren von seinen Qualitäten angetan. "Er war ein großartiger Fußballer, ein kompletter Stürmer - vor dem Tor eiskalt, beidfüßig und gut im Dribbling", sagt Christian Wörns zu SPOX und GOAL. "Marcio war einfach ein guter Typ und alles in allem eine positive Erscheinung."
Am Saisonende kam Amoroso in 27 Bundesligapartien auf 18 Buden, wurde gemeinsam mit Martin Max von 1860 München Torschützenkönig und somit der erste Südamerikaner, dem dies gelang. Doch viel wichtiger: Amoroso, dem im UEFA-Cup beim 4:0-Hinspielsieg im Halbfinale gegen die AC Milan drei Tore gelangen, schoss den BVB zum ersten Meistertitel seit sechs Jahren.
BVB-Torjäger Marcio Amoroso: "Mehr Arbeit, weniger Spiel"
Der Nationalspieler lieferte in seiner ersten Saison aber nicht nur beständig auf dem Feld ab, sondern auch daneben. Eigenmächtig verlängerte Amoroso seine Winterpause und den Heimaturlaub in Brasilien. Der Verein brummte ihm eine 20.000 Euro-Geldstrafe auf, im darauffolgenden Sommer blieb Amoroso erneut länger als vereinbart in Südamerika.
Das größte Problem stellte für Dortmund neben der Abhängigkeit von Amorosos Toren das Verhältnis zu Sammer dar. Der wollte den extravaganten Stürmer nämlich doch wie einen Deutschen spielen lassen und zwar mit Defensivarbeit in vorderster Front sowie dem Fokus auf mannschaftsdienliches Verhalten.
Amoroso konterte und sagte, die Borussia habe ihn schließlich geholt, um Tore zu schießen, was jedoch schwierig sei, "wenn ich zu weit weg vom gegnerischen Tor bin". Später fasste er seine Zeit unter Sammer deutlicher zusammen: "Mehr Arbeit, weniger Spiel."
Seinen sportlichen Ursprung nahm der Zwist schon kurz nach Amorosos Wechsel, als er im Spitzenspiel gegen den FC Bayern mit einem überheblichen Tunnel-Versuch den 0:2-Endstand einleitete. Sammer tobte, sprach von "Verarschung" und dass es im Leben gerecht zugehe, wenn "so etwas bestraft wird".
BVB: Pfeifkonzert nach Amoroso-Auswechslung
Eskaliert ist die Situation dann im März 2002. Amoroso verweigerte im Heimspiel gegen Cottbus in der 66. Minute die Auswechslung. Es dauerte zwei Minuten und die Vermittlung von Landsmann Dede, ehe sich der Stürmer Sammers Entscheidung beugte - freilich nicht, ohne sich auf dem Weg in die Kabine noch ein Wortgefecht mit dem Trainer zu liefern. Der wurde von den BVB-Fans für seine Entscheidung, beim Stand von 2:0 Mittelfeldspieler Miroslav Stevic einzuwechseln, mit einem gellenden Pfeifkonzert bedacht.
"Ich denke, dass Sammer noch zu jung und unerfahren mit dieser sehr sensiblen Art von Spielern war", sagt Meier: "Amoroso meinte, er hätte den BVB allein zum Titel geschossen. Solche Spieler sind Künstler und verhalten sich oft divenhaft, sie müssen aber auch geführt werden." Die unterschiedlichen Auffassungen von Fußball führten zu permanenten Reibungen, "die am Ende in eine unlösbare Situation mündeten", erklärt Meier.
Der Verein steckte in einer Zwickmühle. Das nicht-existente Verhältnis zwischen Trainer und Starspieler habe sich die Borussia nicht leisten können, sagt Meier: "Der Spieler hatte schließlich sehr viel Geld gekostet. Hinzu kamen die fehlenden Einnahmen aus der Champions League."
BVB: Marcio Amoroso und seine Statistiken bei Borussia Dortmund
Wettbewerb | Spiele | Tore | Vorlagen |
Bundesliga | 59 | 28 | 10 |
Ligapokal | 4 | 2 | 1 |
DFB-Pokal | 2 | - | - |
Champions League | 16 | 8 | 1 |
UEFA-Cup | 8 | 5 | 1 |
BVB-Torjäger Marcio Amoroso erhebt schwere Vorwürfe
Denn am Ende von Amorosos zweiter Saison verpasste Dortmund durch ein 1:1 gegen den bereits feststehenden Absteiger Cottbus am letzten Spieltag dramatisch die direkte Qualifikation zur Königsklasse. Sammer ließ Amoroso in dieser Partie 76 Minuten auf der Bank schmoren. "Damals war ihr Verhältnis bereits zerrüttet. Der Spieler hat quasi seine innere Kündigung ausgesprochen und versucht, den Verein auf unschöne Art und Weise zu verlassen", sagt Meier.
Die Borussia, die anschließend in den CL-Playoffs gegen Brügge ausschied, drückte bei Amoroso aber immer wieder beide Augen zu. Zu groß war die Gefahr, die millionenschwere Ablösesumme frühzeitig in den Sand zu setzen. Deutlich wurde das bereits in der entscheidenden Phase um die Meisterschaft 2002, als Amoroso öffentlich von Abschied sprach. Juve, Barca, Real, die beiden Mailänder Klubs, überall dort würde er gerne spielen - sollte es zu einer Offerte für ihn kommen, "müssten wir darüber mit der Borussia reden und die beste Lösung finden" sagte Amoroso. "Alle Brasilianer wollen in Italien oder Spanien spielen."
Dass er in seinem zweiten Jahr nicht mehr an die gezeigten Leistungen anknüpfte, hatte neben dem belasteten Verhältnis zu Sammer auch mit mehreren Verletzungen zu tun, die ihn ausbremsten. So geschah es auch in Saison Nummer drei, die Amoroso mit vier Toren in den ersten vier Bundesligapartien zunächst stark begann. Im September verletzte er sich jedoch am Knie - Amoroso sollte nie wieder für die Schwarz-Gelben auflaufen. Es begann eine regelrechte Schlammschlacht.
Angeführt wurde sie von Amorosos Leibarzt Dr. Nivaldo Baldo, der die Diagnose von BVB-Mannschaftsarzt Dr. Markus Braun (Innenbandteilriss im Knie) anzweifelte und schwere Vorwürfe gegen den Klub erhob. Laut Baldo lag nämlich ein Kreuzbandschaden vor, der dringend operiert werden müsse und eine achtmonatige Ausfalldauer nach sich ziehe. Im Januar 2004 legte sich Amoroso in den USA unters Messer.
BVB und Marcio Amoroso liefern sich Streit um Behandlung
Zur Reha begab er sich anschließend nach Brasilien und es geschah, was meist geschah, wenn sich Amoroso in Brasilien aufhielt - er kam nicht mehr nach Dortmund zurück. Im März sollte er dort wieder aufschlagen. Amoroso ließ aber wissen, dass er die Reha in Brasilien fortsetzen und erst im Juli zur Verfügung stehen würde. Trotz mehrmaliger Aufforderung weigerte sich Amoroso vehement, eine Behandlung in Dortmund in Anspruch zu nehmen.
Unter dem Einfluss von Dr. Baldo geriet der Stürmer vielmehr zum Verschwörungstheoretiker: "Ich habe kein Vertrauen, um zum Verein zurückzukehren. Dort sind zwölf Spieler verletzt, davon haben sechs Knieprobleme, sechs mussten mehrmals operiert werden. Ich will das Risiko nicht noch einmal eingehen", sagte Amoroso und befürchtete, dass ihn der BVB gegen seinen Willen zu voreilig wieder fit bekommen wolle: "Wenn ich aber operiert werden muss und nicht spiele, kann die Borussia keinen Nutzen ziehen. Man würde mich nicht verkaufen können. Deshalb haben sie Angst davor."
Da den Dortmundern kein Schreiben vorlag, das sein Fehlen rechtfertigte und man auch nicht der Behauptung von Amorosos Anwalt Dr. Pedro Adib Glauben schenkte, wonach der Stürmer aufgrund einer Gastritis nicht einreisen könne, drohte der Verein mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Amoroso wurde Vertragsbruch unterstellt, die FIFA sollte eingeschaltet werden.
"Wir wollten die Lage vor Ort in Dortmund klären. Uns war klar, dass Amoroso nicht mehr für den BVB spielen wollte, allerdings hatte er noch Vertrag. Die Gehaltszahlungen wurden dann von unserer Seite eingestellt", sagt Meier. Mit dem Abstand der Zeit nimmt der heute 71-Jährige den Brasilianer in Schutz: "In den weiteren Gesprächen merkten wir, dass er abgeschnitten von den Beratern wenig Einfluss auf die vorherigen Diskussionen hatte, aber dennoch bemüht war, eine saubere Trennung zu vollziehen." Amoroso sei falsch beraten worden: "Seine Agenten wechselten ständig. Das waren alles Leute, die er in Brasilien kennengelernt hatte und ihm Hilfe versprachen."
BVB nach Vertragsauflösung der große Verlierer
Der Streit schwelte bis April 2004. "Mit sofortiger Wirkung und einvernehmlich" (Meier) kündigte die Borussia dann Amorosos bis 2005 datierten Vertrag und ging finanziell als großer Verlierer hervor. Zwar sparte man dessen Jahresgehalt von rund vier Millionen Euro ein, durch die fehlende Transferentschädigung entstand jedoch ein Abschreibungsverlust in Höhe von sieben Millionen Euro. Ein herber Dämpfer für den von großen finanziellen Sorgen gebeutelten BVB.
"Ich war zwar teuer, aber habe mit Toren zurückgezahlt. Es ist nicht die Schuld der Spieler, sondern die des Vorstandes", sagte Amoroso 2015, als er zum Abschiedsspiel von Dede wieder in Westfalen aufschlug. Er sei ein "respektloser Profi" gewesen und habe "vielleicht manchmal etwas überheblich" gewirkt. Aber: "Unerfolgreich war es ja nun auch nicht. Ich brauchte einfach Spaß in meinem Spiel."
Unter Sammer sei ihm der verlorengegangen. Der Coach schickte Amoroso damals mit vielsagenden Worten weg: "Ich wünsche Marcio, dass er bald gesund wird und wieder Fußball spielen kann. Fertig, aus. Ich war zu gut zu ihm, sonst wäre das schon vorher eskaliert."