Thomas Reis vom VfL Bochum im Interview: "Wenn mich da einer anpöbelt, pöbele ich zurück"

Thomas Reis spielte von 1995 bis 2003 für den VfL Bochum.
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Acht Jahre war Thomas Reis bereits als Spieler beim VfL Bochum, nach dem Ende seiner Karriere nahm er dort 2011 die Arbeit im Nachwuchsbereich auf. Nach drei Jahren als U19-Coach beim VfL Wolfsburg wurde er Bochumer Cheftrainer - und führte den Klub nach elf Jahren Abstinenz zurück in die Bundesliga.

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Im Interview mit SPOX und GOAL spricht Reis über Stress mit "seinen" Trainern, seine direkte Art und sensible Spieler. Zudem äußert sich der 48-Jährige über das mögliche Wunder Klassenerhalt, Nostalgie und die Geschehnisse im Weltfußball.

Herr Reis, in welcher Eigenschaft unterscheiden sich der langjährige Profi Thomas Reis und der heutige Trainer Thomas Reis am meisten?

Thomas Reis: In der Emotionalität. Ich war ein Spieler, der stets über seine Emotionen kam. In der Hinsicht war es als Spieler angenehmer, denn da musste man sich nicht so im Zaum halten wie jetzt als Trainer.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich als Spieler nicht hätten trainieren wollen. Warum?

Reis: Ich war als Spieler stets sehr direkt und bin dadurch mit einigen Trainern angeeckt. Wenn mir etwas nicht gepasst hat, habe ich das klar angesprochen. Ich versuche heute als Trainer, diese Ehrlichkeit weiterhin zu leben, da ich der Meinung bin, so meine Spieler auch weiterbringen zu können.

Was gab den Ausschlag, dass Sie häufiger Ihre Meinung kundgetan haben?

Reis: Ich wollte im Grunde nur Gerechtigkeit. Habe ich nicht gespielt, war das für mich eine persönliche Beleidigung. Wenn meine Leistung anders gesehen wurde als ich es tat, wollte ich mich nicht in den Vordergrund stellen, sondern eine Begründung hören.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar unterhielt sich mit Thomas Reis in Bochum.
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SPOX-Redakteur Jochen Tittmar unterhielt sich mit Thomas Reis in Bochum.

Was würden Sie sagen, woher kommt das Direkte und Meinungsstarke in Ihnen?

Reis: Ich würde es auf meinen Werdegang zurückführen. Ich wuchs auf dem Land auf, ließ mit 15 meine Familie und meinen Freundeskreis hinter mir und ging ins Internat des VfB Stuttgart. Damals gab es noch Samstagsschule, so dass ich meist 14 Tage lang von zu Hause weg war. Ich musste also früh meine persönlichen Probleme selbst klären, hatte mich durchzukämpfen und wurde so selbständig. Irgendwann hat sich das in die Richtung entwickelt, dass ich nicht nur schneller gereift, sondern auch selbstbewusster geworden bin.

1990 verließen Sie den VfB und gingen zu Eintracht Frankfurt, wo Sie zwei Jahre später Profi wurden. 1995 schlugen Sie dann mit 21 das erste Mal beim VfL Bochum auf. Welche Rolle in Ihrer Entwicklung als Mensch spielte das kernige Ruhrgebiet?

Reis: Der Menschenschlag hier hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Die Leute sind direkt und keiner hält sich zurück. Zu Beginn habe ich geschluckt, weil ich das so überhaupt nicht kannte. Ich weiß noch: Ich wurde anfangs für meine falsche Mülltrennung kritisiert. Dann wurde mir aber auch umgehend gezeigt, wie es richtig geht. Im Ruhrpott geht es nicht hintenrum über drei Ecken, sondern man sagt sich die Meinung ungefiltert ins Gesicht - damit komme ich super klar.

Fällt es Ihnen heute leichter als früher zu verbergen, wenn Ihnen etwas missfällt?

Reis: Nein, definitiv nicht. Ich mag die direkte Konfrontation. Ich stand in meiner ersten Saison als Chefcoach in Bochum zweimal am Zaun, als die Leute durchgedreht sind, weil es nicht so lief. Wenn mich da einer anpöbelt, dann pöbele ich zurück. Ich weiß, dass mir das irgendwann einmal auf die Füße fallen könnte, aber ich bin auch keine Ware. Wir sind im Stadion nicht in einem Affenkäfig, wo jeder tun darf, was er will, nur weil er Eintritt gezahlt hat.

Die mit Abstand meisten Spiele als Profi haben Sie unter Klaus Toppmöller gemacht. Auf Platz zwei folgt Peter Neururer, beides keine Kinder von Traurigkeit und zugleich bedeutende Bochum-Trainer. Bei wem sind Sie mehr angeeckt?

Reis: Das kann man so nicht sagen. Es war ja nicht jede Woche Theater. Ich bin auch nie über die Öffentlichkeit gegangen, sondern habe immer nur intern meine Meinung gesagt. Unter Toppmöller war es vielleicht etwas emotionaler, weil er auch selbst so ein total Bekloppter im positiven Sinne war. Er war noch wie ein Spieler und fast verrückter als wir. Der hat bei uns im Kreis mitgespielt und dabei gegrätscht. (lacht) Unter ihm bekam ich gegen Frankfurt sogar einmal in der Halbzeit eine Geldstrafe.

Was war vorgefallen?

Reis: Er hat in der ersten Halbzeit oft abgewunken und war sehr negativ, weil wir einige Dinge nicht richtig umgesetzt haben. In der Kabine ging es dann hoch her und ich habe halt zurück geschrien. Da brummte er mir direkt die Geldstrafe auf, die natürlich auch verdient war. Ich durfte aber weiterspielen und habe dann beim Stand von 0:0 noch einen Elfmeter verschossen. Wir verloren am Ende 0:1, aber er hat mich auch im nächsten Spiel wieder eingesetzt.

Wie sah es bei Neururer aus?

Reis: Ich war wegen ihm etwas sauer, da er mich in meiner letzten Saison 2002/03 ein wenig links liegen ließ und ich nur noch selten spielte. Das hat man mir dann auch im Training immer angesehen - nicht nur an meiner Stimmung, sondern auch an den Zweikämpfen. Ich habe nie jemanden verletzt, aber es hat dann schon ordentlich gekracht.

Welche Aspekte der damals verbreiteten Formen der Mannschaftsführung haben Sie für Ihre eigene Arbeit als Trainer mitgenommen?

Reis: Wichtig ist, dass solche Aktionen Momentaufnahmen bleiben und man dann nicht übertrieben nachtragend ist. Insgesamt würde ich sagen, dass mir all meine Trainer halfen, für diesen Job ein eigenes Bauchgefühl und eine gewisse Menschenkenntnis zu entwickeln, um Entscheidungen zu treffen. Es gibt auch Dinge, die einen solch nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen haben, dass ich sie sozusagen eins zu eins übernommen habe.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Reis: Als junger Spieler in Frankfurt hatte ich noch nicht einmal unter Jupp Heynckes trainiert, als ich mich einer Operation an der Leiste unterziehen musste. Ich war ein kleines Licht, er dagegen ein gestandener Coach, der auch schon die Bayern trainiert hatte. Am zweiten Tag nach der OP stand er dennoch bei mir am Krankenbett. Das habe ich so positiv wahrgenommen, dass ich das bis heute stets auch tue, wenn einer meiner Spieler verletzt ist.

Es heißt oft, die heutige Spielergeneration ist bezogen auf den Fußball sehr wissbegierig und hinterfragt vieles. Sind die Spieler auch sensibler als früher?

Reis: Eindeutig. Sie werden schon in jungen Jahren aus unterschiedlichen Gründen dazu getrieben. Es gibt überall klare Richtlinien und sobald jemand mal etwas davon abweicht, kriegt er eins drüber. Hinzu kommt die Dynamik des Umfelds: Manche haben vielleicht überehrgeizige Eltern, es kann Druck vom Trainer oder in der Schule geben. Auch das Mediale darf man nicht unterschätzen, das ist alles viel größer geworden und hat für die Spieler eine recht hohe Bedeutung. Diese Anonymität in den sozialen Medien geht mir ohnehin richtig auf die Nerven. Wenn man dazu kein gesundes Verhältnis entwickelt, ist man ständig mit irgendwelchen Kommentaren konfrontiert. All dies trägt zu einer höheren Sensibilität bei. Dadurch ist es schwieriger geworden, überhaupt noch mündige Spieler zu produzieren.

Thomas Reis spielte von 1995 bis 2003 für den VfL Bochum.
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Thomas Reis spielte von 1995 bis 2003 für den VfL Bochum.

Wie sind Sie mit diesen Umständen umgegangen, als Sie 2013 bei der Bochumer U19 begannen, als Nachwuchscoach zu arbeiten?

Reis: Ich hatte schwer damit zu kämpfen, weil ich einfach ein anderer Typ bin und mir in jungen Jahren alles hart erarbeiten musste. Mir fielen diese Umstände auch noch einmal besonders auf, als ich vom Bochumer in den Wolfsburger Nachwuchsbereich wechselte. Bei den Wölfen nahmen die Spieler manche Dinge schon etwas selbstverständlicher. Man muss sich als Trainer aber darauf einlassen und zusehen, dass man die Spieler und ihre Sorgen oder Nöte versteht, damit sie jederzeit zu dir kommen können - aber zugleich auch wissen, dass ich meine Meinung immer klar äußere.

Sie waren in Bochum ab Februar 2009 in der Nachwuchsabteilung beschäftigt, zunächst als Scout, haben 2011 für drei Monate die Frauen-Mannschaft trainiert, waren Co-Trainer der zweiten Mannschaft und zweimal bei den Profis und sind dann 2016 zur U19 des VfL Wolfsburg gegangen. Warum?

Reis: Ich merkte, dass ich vielleicht einfach mal die Perspektive wechseln muss, um mich weiterentwickeln zu können. Mein persönlicher Traum war immer, eines Tages in Bochum Cheftrainer zu werden. Ohne den Wechsel nach Wolfsburg hätte das nicht geklappt, davon bin ich überzeugt. Ich war als Nachwuchstrainer in Bochum nicht sicher, ob ich das Vertrauen für diese Position bekommen hätte.

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