Trotz Wirtz und Musiala: Warum dem DFB ein Talente-Problem droht

Johannes Ohr
23. März 202213:05
SPOXimago images
Werbung
Werbung

Seit 2016 kürt GOAL mit dem NXGN-Award jedes Jahr die 50 größten Talente der Welt. 2022 darf sich vor allem die Bundesliga freuen: Jude Bellingham vom BVB landete als Gewinner ganz oben auf dem Treppchen, gefolgt vom Leverkusener Florian Wirtz auf Platz 2 und Jamal Musiala vom FC Bayern auf Platz 4. Heißt: Die Bundesliga ist DIE Top-Liga für Talente.

Und trotzdem sieht sich der deutsche Nachwuchs einer gefährlichen Entwicklung ausgesetzt. Im Gespräch mit SPOX und GOAL ordnet Weltfußballer Lothar Matthäus das Ergebnis ein.

"Das sieht gut aus - vor allem für die Bundesliga. Dass die Bundesliga-Spieler so hoch positioniert sind, macht Spaß", sagt Matthäus, als ihm SPOX und GOAL die Ergebnisse des NXGN-Awards 2022 präsentieren. Mit Jude Bellingham, Florian Wirtz und Jamal Musiala wurden gleich drei Talente aus der Bundesliga unter die Top 4 gewählt.

Youssoufa Moukoko (Platz 8), Ricardo Pepi (Platz 10) und Luca Netz (Platz 15) runden das insgesamt sehr gute Bild der Bundesliga ab. Einziger Spieler unter den Top 4, der nicht in Deutschland spielt, ist Barcelonas Gavi. Matthäus: "Er könnte auch etwas weiter oben stehen, er performt hervorragend."

Insgesamt hält er die Wahl an der Spitze für gelungen: "Bellingham und Wirtz haben mehr Einsätze als Musiala. Musiala hat noch Luft nach oben, wenn er mehr Spielzeit bekommt. Dann könnte er in der Rangliste nach oben klettern."

Bei Moukoko geht der Weltfußballer von 1991 dagegen nicht ganz mit: "Warum er auf Platz acht steht, erschließt sich mir nicht ganz", sagt Matthäus. "Er hat kaum Einsatzzeiten, kann gar nicht zeigen, welche Qualität er hat. Aber anhand der Platzierung sieht man, wie hoch er eingeschätzt wird."

Lothar Matthäus: Diesen Ratschlag gebe ich jungen Spielern

Stichwort Einsatzzeiten: Für Matthäus ist Spielpraxis der Schlüssel zum Erfolg. Während Bellingham, Wirtz und mittlerweile auch Musiala regelmäßig spielen, hängen Moukoko (auch verletzungsbedingt) und Pepi bei ihren Vereinen etwas durch. "Beides sind talentierte Spieler, aber sie müssen eben spielen", sagt Matthäus. "Ohne Spielzeit kannst du dich nicht entwickeln, ohne Spielzeit kommst du nicht ins Rampenlicht. Nur Training allein reicht nicht. Bei Ratschlägen an junge Spieler war mir das immer am Wichtigsten: Guckt nicht zuerst auf die großen Verträge, sondern auf die Einsatzzeiten, die euch ein Trainer geben kann!"

Die Chancen dafür sind für Talente in der Bundesliga so gut wie in kaum einem anderen Land. Das Durchschnittsalter in der höchsten deutschen Spielklasse beträgt 25,7 Jahre. Spanien (27,8), England (27,3) und Italien (26,9) liegen darüber - nur Frankreich (25,6) steht im Vergleich der Top-Ligen noch einen Tick besser da als die Bundesliga.

Im weltweiten Kampf um die Top-Talente ist das ein riesiger Vorteil. "In England werden eher die fertigen, erfahrenen Spieler geholt. Die kommen auch zu ihren Einsatzzeiten - die jungen Spieler dann dementsprechend weniger", sagt Matthäus. "Das hat man schon bei Sancho gemerkt. Er kam von der Insel und hat in der Bundesliga die Chance gesehen, in seinem Alter eher auf Einsätze auf hohem Niveau zu kommen als in der Premier League."

Mit durchschlagendem Erfolg. Sancho entwickelte sich in Dortmund zum Topspieler und wechselte nach vier Jahren in Deutschland für stolze 85 Mio. Euro zurück auf die Insel zu Manchester United.

Lothar Matthäus wurde 1991 Weltfußballer.getty

Bundesliga als Sprungbrett: Es gibt zwei Haken

Doch bei der Entwicklung der Bundesliga hin zur internationalen Top-Nachwuchs-Liga gibt es gleich zwei Haken: Zum einen wird die höchste deutsche Spielklasse immer mehr zur Durchgangsstation eben dieser Top-Talente ins Ausland - nach Sancho wechselten u.a. auch Leon Bailey, Kai Havertz, Timo Werner und Ibrahima Konate in die Premier League - und zum anderen geht der Trend der Vereine auch selbst dahin, verstärkt Talente aus dem Ausland zu holen. Für den deutschen Nachwuchs durchaus eine Gefahr.

Der FC Bayern verpflichtete beispielsweise in den vergangenen Monaten mehrere Spieler aus ganz Europa und darüber hinaus: Lovro Zvoranek (16) aus Kroatien (Slaven Belupo), Liu Shaoziyang (18) aus China (von Kooperations-Klub FC Wuhan Three Towns), Jonathan Asp Jensen (16) aus Dänemark (FC Midtjylland), Matteo Perez Vinlöf (16) aus Schweden (Hammarby) und Hyun-ju-Lee (18) aus Südkorea (mit Kaufoption von den Pohang Steelers ausgeliehen).

Darüber hinaus ist der Rekordmeister an Alejandro Jimenez (16/ Real Madrid), Ayman Kari (17) und Warren Zaire-Emery (16)/beide PSG) interessiert. SPOX und GOALberichteten exklusiv.

Auch der BVB wird im Jugendbereich immer internationaler, konzentriert sich dabei auf England (Bellingham, Bynoe-Gittens) und Frankreich und hat dazu auch die Niederlande und Skandinavien im Blick.

Und selbst der amerikanische Markt wird für deutsche Vereine - nicht zuletzt aus Marketing-Gründen - immer interessanter. Bayern ging schon 2018 eine Kooperation mit Partnerverein FC Dallas ein, lädt seitdem Talente zum Probetraining nach München ein.

Deutscher Nachwuchs hinkt im Vergleich hinterher

Doch warum das Ganze? Ist der eigene Nachwuchs nicht gut genug?

"Ohne diese einzelnen, herausragenden Spieler, wie jetzt Jamie, oder früher Jadon Sancho und Giovanni Reyna, die wir über das Toptalente-Scouting holen, haben wir international keine Chance", erklärte BVB-U19-Coach Mike Tullberg zuletzt gegenüber SPOX und GOAL.

"Frankreich, Spanien und England laufen uns im Jugendbereich immer mehr den Rang ab", legt ein Insider im Gespräch mit SPOX und GOAL nun nach. Das zeigt auch ein Blick auf die Statistik.

Seit 2011 wurde Spanien drei Mal U21-Europameister, ein Mal U17-Europameister und gleich vier Mal U19-Europameister. Die Niederlande holten im selben Zeitraum vier EM-Titel mit der U17, Frankreich jeweils einen mit der U17 und der U19, wurde 2018 dazu Weltmeister mit den Profis um Jungstar Kylian Mbappe.

England gewann mit den Junioren zwar nur einen U19-Titel, verfügt dafür aber mittlerweile über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Top-Talenten. Täuschen die beiden deutschen EM-Titel mit der U21 also über vieles hinweg? Der letzte EM-Titel mit der U17 ist immerhin schon 13 Jahre her ...

Lothar Matthäus: "Wir machen uns oft schlechter"

Matthäus sieht den deutschen Nachwuchs trotz der Bilanz nicht so schwach aufgestellt: "Wir machen uns oft schlechter, als wir sind. Musiala hat sich ja glücklicherweise für die Nationalmannschaft entschieden, auch Wirtz und Moukoko spielen für Deutschland. Drei Deutsche bei der Wahl unter den ersten Acht - das hört sich nicht so schlecht an."

Bayern München und auch andere Vereine würden im Nachwuchsbereich gut arbeiten, im internationalen Vergleich könne man auch nicht immer top sein. "Dass man mal überholt wird passiert nicht nur uns, sondern allen anderen Ländern auch", macht sich Matthäus keine Sorgen.

Und trotzdem geht der Trend klar zu mehr Top-Talenten aus dem Ausland - mit der Folge, dass Spielanteile für deutsche Nachwuchskräfte angesichts der gestiegenen Konkurrenz schwieriger erreichen zu sein werden.

"Man schaut sich international um. Wenn man überzeugt ist von einem jungen Spieler und man hat eine Möglichkeit ihn zu holen, dann finde ich das nicht falsch", sagt Matthäus über die Entwicklung. "Messi wurde auch mit 11 Jahren von Barcelona geholt, weil man eben sein Talent erkannt hat. Man braucht Weitsicht. Und wenn man dann ein entsprechendes Scouting hat - und das haben heute die großen Vereine - finde ich es nicht verkehrt, in Absprache mit den Eltern einen 14- oder 15-Jährigen von etwas weiter her beispielsweise nach München zu holen. Das machen englische Vereine auch. Ich finde es nicht verwerflich, wenn man die Fühler auch ins Ausland ausstreckt."

Doch es gibt nur nur sportliche Gründe dafür, Talente aus dem Ausland zu holen. Auch wirtschaftliche Überlegungen spielen eine Rolle. Matthäus: "Natürlich kommen viele Nachwuchsspieler nach Deutschland, das Alter für einen Wechsel ist in der Hinsicht gesunken. Denn wenn diese Jungs 18 sind, ist es oft zu spät und so, dass man sie vielleicht gar nicht mehr bezahlen kann. Deswegen ist es richtig, dass man sich im Scouting auch dahingehend gut aufstellt."

Nach Informationen von SPOX und GOAL kann sich ein finanzielles Gesamtpaket für einen 15-Jährigen schon mal auf bis zu 900.000 Euro anhäufen - für die Top-Vereine aber immer noch Peanuts im Vergleich zu den Ablösesummen, die nach einem Profi-Debüt aufgerufen würden.

Matthäus: "Mit dem Campus hat der DFB ein Zeichen gesetzt"

Sportlich und wirtschaftlich spricht viel für die Transfer-Offensive im Junioren-Bereich. Wie also den deutschen Nachwuchs stärken? Matthäus setzt auf zwei Dinge: den sportlichen Wettbewerb und den DFB.

Bei seinem Wechsel 1988 zu Inter Mailand war der Mittelfeldspieler zwar schon reife 27 Jahre alt, entscheidend weitergebracht habe ihn der Schritt in die damals wohl beste Liga der Welt aber trotzdem. Frei nach dem Motto: Konkurrenz belebt das Geschäft.

"Wenn du dich mit den Besten messen kannst, profitierst du auch davon. Das war bei mir in Italien auch der Fall und hat mich vielleicht dann auch zu einem Spieler gemacht, der den Unterschied ausmachen kann", erinnert sich Matthäus. "Ich glaube, dass das bei Bayern auf diesem Niveau damals nicht möglich gewesen wäre. Da hätten wir in der Bundesliga viele Spiele mit halber Kraft entscheiden können. In Italien musstest du stattdessen jedes Wochenende Vollgas geben. Das ist uns zugute gekommen. Zwei Jahre später ist Deutschland mit sechs italienischen Legionären Weltmeister geworden. Ich glaube, davon hat dann auch der deutsche Fußball profitiert."

Die nächste Weltmeister-Generation soll künftig auch in Frankfurt ausgebildet werden. Dort lässt der DFB auf 49.365 Quadratmeter Gebäudefläche aktuell den neuen Campus errichten. Kostenpunkt: 150 Millionen Euro.

Matthäus hofft darauf, dass das Projekt entscheidend zur Zukunft des deutschen Fußballs und Nachwuchses beiträgt: "Es hat im Juniorenbereich schon schlechtere Zeiten gegeben. Gerade unsere U21 hat uns in den letzten sechs bis acht Jahren Freude bereitet. Natürlich, in den jüngeren Jahrgängen stockt es manchmal. Aber mit dem neuen Campus hat man ein Zeichen gesetzt. Ich hoffe, dass das, was da an Geld und Fachwissen investiert wurde, so einfließt, dass wir auch in den anderen U-Nationalmannschaften große Erfolge feiern können."