Mit dem FC Bayern München gewann Rainer Zobel zwischen 1972 und 1976 je dreimal die deutsche Meisterschaft und den Europapokal der Landesmeister. Im Interview spricht er über das 74er-Finale gegen Atletico, die Geburt des Bayern-Gens, die Alkohol-Fahrt nach Gladbach und Bar-Geschichten mit Lattek. Außerdem berichtet er Kurioses von seinen Trainer-Stationen im Ausland.
SPOX: Herr Zobel, es ist fast 42 Jahre her, dass Sie mit dem FC Bayern Ihren ersten internationalen Titel holten. 1974 gewannen Sie den Europapokal der Landesmeister im Finale gegen Atletico Madrid. Denken Sie seit der Champions-League-Auslosung vor knapp zwei Wochen öfter mal daran zurück?
Rainer Zobel: Seitdem ganz besonders, ja. Ich werde jeden Tag darauf angesprochen. Von daher habe ich die Bilder von damals wieder bestens vor Augen.
SPOX: Das Endspiel in Brüssel war kurios. Erst in der 114. Minute traf Luis zum 1:0 für Atletico. In der 120. Minute erzielte Georg "Katsche" Schwarzenbeck doch noch den Ausgleich. Er war nicht unbedingt fürs Toreschießen bekannt...
Zobel: ... und dann haut er die Kugel 20 Sekunden vor Schluss aus 30 Metern in den Kasten. Da hat er sich wahrscheinlich sehr erschrocken. (lacht) Das war wohl das erste und letzte Mal, dass er aus so einer Entfernung ein Tor geschossen hat. An einen Schwarzenbeck-Treffer aus dem Spiel heraus kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Vielleicht war das aber der Ursprung des Bayern-Gens.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Zobel: Später sagten große Persönlichkeiten wie Oliver Kahn zum Beispiel 'Weiter, immer weiter. Bis zum Schluss!' Mit dieser Mentalität hat Bayern schon Titel gewonnen, unter anderem die deutsche Meisterschaft 2001 - weil man bis zur letzten Minute dran geglaubt und nicht aufgegeben hat. Das ist vielleicht damals geboren worden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es vorher so etwas beim FC Bayern gab.
SPOX: Erstmals in der Geschichte des Wettbewerbs musste ein Endspiel wiederholt werden, weil ein Elfmeterschießen zur Entscheidungsfindung nicht zulässig war. Haben Sie sich ausgemalt, dass Sie Atletico im zweiten Spiel überrennen würden?
Zobel: Nein, es gab keine große Euphorie. Wir wussten, dass wir nicht so gut gespielt hatten, also sind wir zurück ins Hotel gefahren und haben uns vorbereitet.
gettySPOX: Das Wiederholungsspiel fand nur zwei Tage später statt. Sie haben mit der gleichen Aufstellung gespielt wie im Hinspiel und 4:0 gewonnen - durch je zwei Tore von Uli Hoeneß und Gerd Müller.
Zobel: Wir waren fitter, auch im Kopf, denn wir wussten, dass sie psychisch angeknockt waren. Zudem haben wir richtig gut gespielt. Ich persönlich habe mein bestes Spiel für Bayern München gemacht. Zusammen mit Franz "Bulle" Roth habe ich Atletico im Mittelfeld überhaupt nicht zur Entfaltung kommen lassen. Wir waren voller Willen, diesen Cup zu holen.
SPOX: In den gesamten 90 Minuten haben Sie nicht einmal ausgewechselt.
Zobel: So war das damals. Wir hatten unsere Stammelf. Wer nicht dazu gehörte, hatte es schwer reinzukommen. Es gab höchstens ein oder zwei Positionen, auf denen mal getauscht wurde. Auf allen anderen Positionen machten die Spieler jede Saison mindestens 28 bis 34 Spiele. Wir spielten zwischen 1970 und 1976 quasi sechs Jahre lang mit derselben Mannschaft.
SPOX: Udo Lattek war für seine Motivationstricks bekannt. Packte er vor dem Wiederholungsspiel auch einen aus?
Zobel: In dieser Partie brauchte er das nicht. Er hat am Verhalten der Spieler gemerkt, dass alle voll fokussiert waren. Generell hat er sich aber oft mal etwas einfallen lassen - häufig war es auch sehr lustig. Ich kann mich daran erinnern, dass wir nach einem Freundschafts-Turnier in Barcelona nachts um 1 Uhr ins Hotel zurückkamen und nach dem Essen noch ein Abschlussbier an der Bar trinken wollten. Das war damals so üblich. Plötzlich kam Lattek in den Bar-Bereich hereingefegt und schrie unglaublich laut und energisch: 'Ich zähle jetzt bis eine Million und dann seid ihr alle im Bett!' Die jungen Spieler haben natürlich das 'eine Million' nicht mehr mitbekommen, weil sie alles haben stehen lassen und losgerannt sind. Mit uns älteren Spielern hat Lattek dann noch weitergetrunken.
SPOX: Heutzutage wäre das nicht mehr möglich - weder für die Spieler, noch für den Trainer.
Zobel: Man darf diese Lockerheit nicht mehr haben. Das hat viel mit den Medien zu tun. Die saugen alles auf. Ich beneide die aktuellen Bundesliga-Spieler nicht. Die können nicht mehr wie ich früher zur Lach- und Schießgesellschaft und dort gemütlich ein Glas Wein trinken. Heute sitzt hundertprozentig jemand da, der sein Handy rausholt und es fotografiert. Die Spieler haben nicht mehr so ein freies Leben. Es ist mir peinlich, wenn ich sehe, dass die Spieler und Trainer auf dem Platz die Hand vor den Mund halten, damit kein Lippenleser erkennt, was sie sagen. Diese persönliche Einschränkung würde mir keinen Spaß machen.
SPOX: 1974 konnten Sie noch bedenkenlos feiern - und taten das auch, oder? Sie waren immerhin die erste deutsche Mannschaft, die den Landesmeister-Pokal geholt hat.
Zobel: In der Nacht wurde richtig auf den Putz gehauen. Jeder hielt eine Ansprache, dazu wurde jedes Mal was getrunken. Wir hatten viele fröhliche Leute, das hat also gut gepasst. "Bulle" Roth war beim Feiern ganz weit vorne. Ich selbst konnte das aber auch gut. (lacht) Das ging bis in die Morgenstunden so. Dann mussten wir aber um 10 Uhr wieder losfahren nach Gladbach und um 15 Uhr dort die letzte Bundesliga-Partie der Saison spielen.
SPOX: Einzig mit dem Ziel zu verhindern, dass Jupp Heynckes Gerd Müller noch in der Torjägerliste überholt?
Zobel: Das Spiel hat gar keiner mehr ernst genommen, wir waren ja alle noch alkoholisiert. Nur Viggo Jensen hatte sich bereiterklärt, als Einziger nichts zu trinken. Er musste Jupp Heynckes bewachen. Ich selbst bin in der ersten Halbzeit auf der Ersatzbank eingeschlafen. Lattek hat mich geweckt und nach der Pause eingewechselt.
SPOX: Nach dem Spiel, das Sie 0:5 verloren, konnten Sie dann zusammen mit den Gladbachern weiterfeiern?
Zobel: Wir haben uns vor dem Hotel mit unserem Bier raus auf den Rasen gesetzt. Dort gingen die ganzen Gladbacher Fans vorbei. Die prosteten uns alle zu und bejubelten uns. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Rivalität zwischen Bayern und Gladbach damals in etwa vergleichbar war mit der heutigen zwischen Dortmund und Schalke. Da haben wir erst so richtig verstanden, was wir überhaupt geschafft hatten. Der Erfolg in Brüssel war nicht nur für Bayern, sondern einer für ganz Deutschland.
SPOX: In den beiden darauffolgenden Jahren haben Sie den Titel verteidigt. Trotzdem haben Sie beispielsweise in der Saison 1974/75 beim FC Ararat Eriwan verloren oder im Jahr drauf bei Malmö FF. War jedes Spiel eine Wundertüte?
Zobel: Natürlich, wir sind teilweise mit einem blauen Auge ins Endspiel gekommen. Der FC Bayern hatte durchaus mehr Glück als spielerisches Können. (lacht) Trotzdem haben wir es geschafft, dreimal in Folge den Europapokal zu gewinnen beziehungsweise zwischen 1972 und 1974 dreimal die deutsche Meisterschaft.
SPOX: Vier Meistertitel in Folge schaffte aber noch niemand. Was würde es bedeuten, wenn der FCB das in diesem Jahr schafft?
Zobel: Bis heute ist unser damaliges Team noch die erfolgreichste Bayern-Mannschaft aller Zeiten - aber nicht die beste. Das heutige Team ist viel stärker. Wenn man aber etwas Besonderes erreicht, bleibt das für die Fußballgeschichte. Das ist uns in den 70ern gelungen und das wird der FCB auch dieses Jahr schaffen. Solche Erfolge sind für die Ewigkeit. Ich wünsche den Bayern, dass sie in diesem Jahr auch das Triple holen. Sie haben es verdient.
SPOX: Sie bestritten Ihr letztes Profispiel für den FC Bayern beim 7:4-Sieg über Hertha BSC am letzten Spieltag der Saison 1975/76. Mit 27 Jahren gingen Sie zum Lüneburger SK in die Verbandsliga Niedersachsen. Wieso so früh? Sie standen ja eigentlich noch voll im Saft.
Zobel: Ich hätte ohnehin nur noch zwei oder drei Jahre beim FCB dranhängen können. Also fasste ich den Entschluss zu studieren, um nach der Karriere etwas anderes zu machen. Außerdem waren zu der Zeit einige Klubs wie Schalke oder Offenbach ziemlich verschuldet. Beim FC Bayern war damals Wilhelm Neudecker Präsident. Um eine ähnliche Misere zu vermeiden, führte er ein neues Bezahlprinzip ein. Das war vom Ansatz her richtig, von der Ausführung her aber falsch.
SPOX: Erklären Sie es.
Zobel: Die Verträge von Johnny Hansen und mir liefen 1976 aus. Wir hätten zwar verlängern können, jedoch wollte man unser Gehalt nur dann bezahlen, wenn wir auf eine gewisse Anzahl an Einsätzen gekommen wären. Wir hätten deutliche Abzüge gehabt, wenn wir die Anzahl der Spiele nicht erreicht hätten.
SPOX: Das Risiko war Ihnen zu groß.
Zobel: Natürlich, der FC Bayern konnte ja steuern, welcher Spieler auf wie viele Einsätze kam. Beckenbauer, Müller, Maier, Breitner und Hoeneß hätten so oder so alle Spiele gemacht. An den anderen Spielern konnte man aber viel Geld sparen. Johnny und ich haben das nicht mitgemacht.
SPOX: Sie hätten doch aber sicher bei einem anderen Verein unterkommen können.
Zobel: Der HSV wollte mich gerne haben und dort hätte ich nebenher auch studieren können. Es scheiterte aber an der Ablösesumme, denn ich wäre zu der Zeit der teuerste Spieler der Bundesliga-Geschichte gewesen.
SPOX: Um welchen Betrag ging es denn?
Zobel: Die Ablösesumme errechnete sich anhand eines bestimmten Koeffizienten und des Gehalts. Bayern München hatte den höchsten Faktor: fünf oder sechs. Dieser wurde mit meinem Jahresgehalt multipliziert. Das wären insgesamt über zwei Millionen Mark gewesen. Das wollte natürlich kein Mensch ausgeben. Also ging ich nach Lüneburg. Ich wäre aber fast noch einmal beim FC Bayern eingestiegen.
SPOX: Wie kam es?
Zobel: Zum 30. Juni lief mein Vertrag aus. Man musste damals aber drei Monate warten, um sich wieder reaktivieren zu lassen. Vor Ablauf dieser Zeit durfte ich in Lüneburg also nicht spielen. Anfang Oktober sollte ich mein erstes Spiel bestreiten. Das Spiel wurde von einem Sonntag auf den Samstag vorverlegt. An diesem Tag spielte auch der FC Bayern zuhause gegen Schalke 04 - und verlor 0:7. Nach der Partie rief mich Bayerns Manager Robert Schwan an und sagte: 'Du kannst alles vergessen, was gesagt wurde. Wir machen das mit der Bezahlung wie früher. Komm wieder zurück.'
SPOX: Warum haben Sie es nicht gemacht?
Zobel: Das konnte ich nicht, weil ich das Amateurspiel schon bestritten hatte. Es hat mich total geärgert. Die ganze Angelegenheit ging sogar über den DFB. Man wollte den Wechsel rückgängig machen, der Lüneburger SK sollte Geld vom FC Bayern erhalten. Es war aber nicht möglich.
SPOX: Sie spielten noch einige Jahre in Lüneburg und wurden 1982 Trainer. Insgesamt 17 verschiedene Trainerstationen stehen in Ihrer Vita. Welche ist am meisten in Erinnerung geblieben?
Zobel: Im Profifußball zählt der Erfolg. Von daher waren die drei Jahre von 1998 bis 2000 bei Al-Ahly Kairo sicher die positivsten. Wir wurden dreimal ägyptischer Meister und haben den Arab Supercup gewonnen. Das waren fantastische Jahre, zumal Al-Ahly in der arabischen Fußballwelt eine absolute Größe ist. Ich erlebte dort auch einen der emotionalsten Momente meiner Karriere.
SPOX: Was ist passiert?
Zobel: Das war einen Tag nach dem Tod meines Vaters. Er starb im Alter von 89 Jahren an einem Donnerstag, am Freitag hatten wir ein Heimspiel. Die Leute in Kairo erwarteten, dass ich direkt nach Hause fliegen würde. Ich bin jedoch zum Spiel geblieben. Mein Vater hätte es auch nicht anders gewollt, er war Beamter. Er hätte es als Pflicht angesehen, zuerst die Arbeit zu erledigen. (lacht) Von daher bin ich erst nach dem Spiel geflogen. Diese Information stand am Freitagmorgen in der Zeitung.
SPOX: Und dann?
Zobel: Die Leute rechneten mir die Entscheidung hoch an. Fast 100.000 Zuschauer im Stadion hielten vor dem Spiel eine Gedenkminute für meinen Vater ab. Ein ganzes Stadion voller Muslime betete für meinen christlichen Vater. Das treibt mir heute noch Tränen in die Augen.
SPOX: Sie waren in so vielen verschiedenen Ländern und erlebten zahlreiche Kuriositäten, einige davon sicher auch in Afrika.
Zobel: Einmal wurde uns der Masseur geklaut.
SPOX: Wie?
Zobel: In Afrika wird mit allen Mitteln gearbeitet. Es war ein Spiel der afrikanischen Champions League in Burundi. In der Kabine merkte ich, dass unser Masseur und der Ballsack fehlten. Die Polizei hatte ihn abgefangen und ihn auf die Ehrentribüne gesetzt. Wir wussten nicht, wo er war. Zum Warmmachen hatten wir also weder Bälle, noch Masseur. Kurz vor dem Anpfiff brachten sie ihn wieder und entschuldigten sich mit der Aussage: 'Wir dachten, es sei der Präsident.' Das muss man sich mal vorstellen: Der Mann hatte eine kurze Sporthose an und trug zehn Bälle auf dem Rücken. Ich war unglaublich sauer, zumal es am Tag zuvor schon genauso angefangen hatte.
SPOX: Inwiefern?
Zobel: Uns wurde kein Trainingsplatz zur Verfügung gestellt. Überall, wo wir hinkamen, waren die Plätze belegt. Ich habe unseren Busfahrer nach zwei Stunden Suche auf einem Marktplatz anhalten lassen und den Jungs gesagt: 'Wir trainieren hier.' Die Spieler waren natürlich nicht sonderlich glücklich und haben vor Wut ständig Bälle in die Obst- und Gemüsestände geschossen. (lacht)
SPOX: Vermutlich könnten Sie unzählige dieser Anekdoten erzählen?
Zobel: Auf jeden Fall. Ich wurde auch einmal fast verhaftet, als ich bei der Platzbegehung mit dem Daumen in den Rasen drückte, um zu sehen, welches Schuhwerk für die Spieler am geeignetsten war. Plötzlich führten mich zwei Polizisten ab, weil sie dachten, dass ich irgendeinen Voodoo-Zauber anwende.
SPOX: Und mit all diesen Erfahrungen schließen Sie nun endgültig ab? Zur Saison 2016/17 werden Sie Trainer beim Braunschweiger Kreisligisten FC Wenden.
Zobel: Sofern keiner mehr mit richtig Bargeld droht, ist das mein Entschluss, mit dem Profifußball abzuschließen, ja. (lacht) Ich war lange unterwegs, jetzt ist die Familie wichtiger. Da ich aber nicht nur im Garten sitzen und meine Musiksammlung rauf- und runterhören kann, ist das der perfekte Ausgleich für mich.
Atletico Madrid - FC Bayern München: Daten zum Spiel