SPOX: Herr Zobel, es ist fast 42 Jahre her, dass Sie mit dem FC Bayern Ihren ersten internationalen Titel holten. 1974 gewannen Sie den Europapokal der Landesmeister im Finale gegen Atletico Madrid. Denken Sie seit der Champions-League-Auslosung vor knapp zwei Wochen öfter mal daran zurück?
Rainer Zobel: Seitdem ganz besonders, ja. Ich werde jeden Tag darauf angesprochen. Von daher habe ich die Bilder von damals wieder bestens vor Augen.
SPOX: Das Endspiel in Brüssel war kurios. Erst in der 114. Minute traf Luis zum 1:0 für Atletico. In der 120. Minute erzielte Georg "Katsche" Schwarzenbeck doch noch den Ausgleich. Er war nicht unbedingt fürs Toreschießen bekannt...
Zobel: ... und dann haut er die Kugel 20 Sekunden vor Schluss aus 30 Metern in den Kasten. Da hat er sich wahrscheinlich sehr erschrocken. (lacht) Das war wohl das erste und letzte Mal, dass er aus so einer Entfernung ein Tor geschossen hat. An einen Schwarzenbeck-Treffer aus dem Spiel heraus kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Vielleicht war das aber der Ursprung des Bayern-Gens.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Zobel: Später sagten große Persönlichkeiten wie Oliver Kahn zum Beispiel 'Weiter, immer weiter. Bis zum Schluss!' Mit dieser Mentalität hat Bayern schon Titel gewonnen, unter anderem die deutsche Meisterschaft 2001 - weil man bis zur letzten Minute dran geglaubt und nicht aufgegeben hat. Das ist vielleicht damals geboren worden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es vorher so etwas beim FC Bayern gab.
SPOX: Erstmals in der Geschichte des Wettbewerbs musste ein Endspiel wiederholt werden, weil ein Elfmeterschießen zur Entscheidungsfindung nicht zulässig war. Haben Sie sich ausgemalt, dass Sie Atletico im zweiten Spiel überrennen würden?
Zobel: Nein, es gab keine große Euphorie. Wir wussten, dass wir nicht so gut gespielt hatten, also sind wir zurück ins Hotel gefahren und haben uns vorbereitet.
SPOX: Das Wiederholungsspiel fand nur zwei Tage später statt. Sie haben mit der gleichen Aufstellung gespielt wie im Hinspiel und 4:0 gewonnen - durch je zwei Tore von Uli Hoeneß und Gerd Müller.
Zobel: Wir waren fitter, auch im Kopf, denn wir wussten, dass sie psychisch angeknockt waren. Zudem haben wir richtig gut gespielt. Ich persönlich habe mein bestes Spiel für Bayern München gemacht. Zusammen mit Franz "Bulle" Roth habe ich Atletico im Mittelfeld überhaupt nicht zur Entfaltung kommen lassen. Wir waren voller Willen, diesen Cup zu holen.
SPOX: In den gesamten 90 Minuten haben Sie nicht einmal ausgewechselt.
Zobel: So war das damals. Wir hatten unsere Stammelf. Wer nicht dazu gehörte, hatte es schwer reinzukommen. Es gab höchstens ein oder zwei Positionen, auf denen mal getauscht wurde. Auf allen anderen Positionen machten die Spieler jede Saison mindestens 28 bis 34 Spiele. Wir spielten zwischen 1970 und 1976 quasi sechs Jahre lang mit derselben Mannschaft.
SPOX: Udo Lattek war für seine Motivationstricks bekannt. Packte er vor dem Wiederholungsspiel auch einen aus?
Zobel: In dieser Partie brauchte er das nicht. Er hat am Verhalten der Spieler gemerkt, dass alle voll fokussiert waren. Generell hat er sich aber oft mal etwas einfallen lassen - häufig war es auch sehr lustig. Ich kann mich daran erinnern, dass wir nach einem Freundschafts-Turnier in Barcelona nachts um 1 Uhr ins Hotel zurückkamen und nach dem Essen noch ein Abschlussbier an der Bar trinken wollten. Das war damals so üblich. Plötzlich kam Lattek in den Bar-Bereich hereingefegt und schrie unglaublich laut und energisch: 'Ich zähle jetzt bis eine Million und dann seid ihr alle im Bett!' Die jungen Spieler haben natürlich das 'eine Million' nicht mehr mitbekommen, weil sie alles haben stehen lassen und losgerannt sind. Mit uns älteren Spielern hat Lattek dann noch weitergetrunken.
SPOX: Heutzutage wäre das nicht mehr möglich - weder für die Spieler, noch für den Trainer.
Zobel: Man darf diese Lockerheit nicht mehr haben. Das hat viel mit den Medien zu tun. Die saugen alles auf. Ich beneide die aktuellen Bundesliga-Spieler nicht. Die können nicht mehr wie ich früher zur Lach- und Schießgesellschaft und dort gemütlich ein Glas Wein trinken. Heute sitzt hundertprozentig jemand da, der sein Handy rausholt und es fotografiert. Die Spieler haben nicht mehr so ein freies Leben. Es ist mir peinlich, wenn ich sehe, dass die Spieler und Trainer auf dem Platz die Hand vor den Mund halten, damit kein Lippenleser erkennt, was sie sagen. Diese persönliche Einschränkung würde mir keinen Spaß machen.
SPOX: 1974 konnten Sie noch bedenkenlos feiern - und taten das auch, oder? Sie waren immerhin die erste deutsche Mannschaft, die den Landesmeister-Pokal geholt hat.
Zobel: In der Nacht wurde richtig auf den Putz gehauen. Jeder hielt eine Ansprache, dazu wurde jedes Mal was getrunken. Wir hatten viele fröhliche Leute, das hat also gut gepasst. "Bulle" Roth war beim Feiern ganz weit vorne. Ich selbst konnte das aber auch gut. (lacht) Das ging bis in die Morgenstunden so. Dann mussten wir aber um 10 Uhr wieder losfahren nach Gladbach und um 15 Uhr dort die letzte Bundesliga-Partie der Saison spielen.
SPOX: Einzig mit dem Ziel zu verhindern, dass Jupp Heynckes Gerd Müller noch in der Torjägerliste überholt?
Zobel: Das Spiel hat gar keiner mehr ernst genommen, wir waren ja alle noch alkoholisiert. Nur Viggo Jensen hatte sich bereiterklärt, als Einziger nichts zu trinken. Er musste Jupp Heynckes bewachen. Ich selbst bin in der ersten Halbzeit auf der Ersatzbank eingeschlafen. Lattek hat mich geweckt und nach der Pause eingewechselt.
SPOX: Nach dem Spiel, das Sie 0:5 verloren, konnten Sie dann zusammen mit den Gladbachern weiterfeiern?
Zobel: Wir haben uns vor dem Hotel mit unserem Bier raus auf den Rasen gesetzt. Dort gingen die ganzen Gladbacher Fans vorbei. Die prosteten uns alle zu und bejubelten uns. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Rivalität zwischen Bayern und Gladbach damals in etwa vergleichbar war mit der heutigen zwischen Dortmund und Schalke. Da haben wir erst so richtig verstanden, was wir überhaupt geschafft hatten. Der Erfolg in Brüssel war nicht nur für Bayern, sondern einer für ganz Deutschland.