"Im Oktober war Jerome nicht fit und verletzungsanfällig. Jetzt hat er fast wieder die Topform, die er 2013 hatte. Jerome ist unheimlich leistungsstark und ist ein Leader der Mannschaft. Mit solchen Spielern kann man die Champions League gewinnen", schwärmte Jupp Heynckes am Montag noch von seinem Abwehrchef.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte der Bayern-Trainer noch nicht, dass sich ausgerechnet der "Leader" der Viererabwehrkette im Hinspiel gegen Real eine Muskelverletzung zuziehen sollte, die weitere Vereins-Einsätze in dieser Saison ausschließt.
Auf der Bayern-Homepage wird von einer "strukturellen Verletzung der Adduktoren-Muskulatur im linken Oberschenkel" geschrieben, verschiedene Medien berichten übereinstimmend von einer vier- bis sechswöchigen Pause. Neben der schweren Hypothek der 1:2-Hinspielniederlage müssen die Münchner damit die Reise ins Estadio Santiago Bernabeu auch ohne ihren Abwehrchef antreten.
Boateng unverzichtbar für den FC Bayern
Nachdem Boatengs Stellenwert bei den Münchnern zu Saisonanfang unter dem geschassten Ex-Trainer Carlo Ancelotti noch einen bedenklichen Tiefpunkt erreicht hatte, erarbeitete sich der Abwehrspieler nach Heynckes' Rückkehr wieder jenen Status der Unverzichtbarkeit, den er über Jahre hatte.
"Wir sind durch schwierige Zeiten gegangen. Aber Jerome wurde richtig gut aufgebaut, hat besser und besser gespielt. Er hat gezeigt, wie wichtig er für uns ist", lobte Sportdirektor Hasan Salihamidzic den 29-Jährigen am Ende der Hinrunde ausdrücklich.
Mit Ausnahme des Rückspiels gegen den französischen Meister aus Paris, vor welchem die Münchner den Einzug in das Achtelfinale bereits gesichert hatten, stand Boateng in allen folgenden Duellen in der Königsklasse über 90 Minuten auf dem Platz. Bis zur Niederlage gegen die Königlichen waren die Münchner mit Boateng auf dem Platz in dieser Saison ungeschlagen, die letzte Niederlage datierte aus dem Viertelfinal-Rückspiel der vorherigen Saison bei Real.
Süle als zuverlässiger Stellvertreter in der Abwehr des FC Bayern
Nach Boatengs Ausfall wird es beim deutschen Rekordmeister mehr als zuvor auf Niklas Süle ankommen. Nicht nur nach seiner Einwechslung gegen Real, sondern auch in weiten Teilen der bisherigen Saison stellte der ehemalige Hoffenheimer unter Beweis, dass er einen zuverlässigen Stellvertreter des Stammduos aus Boateng und Mats Hummels darstellt.
In der Bundesliga weist Süle in dieser Spielzeit gar mit 92,9 Prozent die beste Passquote der drei Verteidiger auf (Boateng: 86,9 Prozent, Hummels 87,6 Prozent), bei der Zweikampfquote bewegt sich das Trio annähernd auf dem gleichen Niveau (Hummels: 63,4 Prozent, Süle: 62,5 Prozent, Boateng: 61,5 Prozent).
Durch seine Rolle beim deutschen Rekordmeister gilt Süle naturgemäß auch als Anwärter auf einen Platz in der Viererkette der deutschen Nationalelf, sollte sich Boatengs Verletzung als so schwerwiegend herausstellen, dass er die Reise nach Russland nicht antreten kann.
Süle oder Rüdiger als erster Nachrücker in der Nationalelf?
Trotz des Triumphes beim Confederations Cup im vergangenen Sommer kann Süle allerdings bislang erst auf neun Einsätze mit dem Adler auf der Brust verweisen. Seit dem siegreichen Gruppenspiel gegen Kamerun stand der 22-Jährige gar nur einmal in der deutschen Startelf, sechs Mal verbrachte Süle die volle Spieldauer auf der Ersatzbank.
Stand das Stammduo Hummels/Boateng nicht zur Verfügung, favorisierte Löw seit der Europameisterschaft in Frankreich Chelseas Antonio Rüdiger als ersten Stellvertreter. Der beim VfB Stuttgart ausgebildete Abwehrspieler stand im gleichen Zeitraum sechs Mal zu Anpfiff auf dem Rasen und verpasste das EM-Turnier nur aufgrund einer Verletzung in der Vorbereitung.
Aufgrund seiner physischen Anlagen und seiner Dynamik wurde Rüdiger in der Vergangenheit häufig bereits mit Boateng während seiner Anfangszeit in München verglichen, selbst der Bundestrainer bezeichnete den ehemaligen Stuttgarter schon als "kleinen Boateng".
Hinter Süle und Rüdiger hoffen auch die Weltmeister Matthias Ginter und Shokdran Mustafi auf ihr Russland-Ticket, die in der Vergangenheit ihre Rolle als zuverlässige Stellvertreter unter Beweis gestellt haben.
Bei aller Verlässlichkeit geht dem Quartett aber die Erfahrung auf den ganz großen internationalen Bühnen ab, die Boateng mit den siegreichen Endspielen in der Champions League 2013 und der Weltmeisterschaft 2014 voraushat. Deshalb besteht für Boateng die Chance, auch dann noch auf den WM-Zug aufzuspringen, wenn er nicht komplett fit sein sollte.
Boatengs Leistungsdaten in der Nationalmannschaft
Wettbewerb | Eisätze | Minuten | Siege | Remis | Niederlagen |
Freundschaftsspiele | 25 | 1.703 | 9 | 10 | 6 |
Europameisterschaft | 10 | 1.017 | 7 | 1 | 2 |
EM-Qualifikation | 12 | 1022 | 9 | 2 | 1 |
Weltmeisterschaft | 12 | 948 | 10 | 1 | 1 |
WM-Qualifikation | 11 | 849 | 10 | 1 | - |
Khedira und Schweinsteiger als prominente Vorbilder
In der Vergangenheit betonte Joachim Löw zwar in schöner Regelmäßigkeit, dass nur topfite Spieler Aufnahme in seinen Turnierkader fänden, stellte aber auch schon unter Beweis, dass er bei verdienten Akteuren bereit ist, eine Ausnahme zu machen.
Bastian Schweinsteiger plagte sich im Vorfeld des siegreichen Turniers 2014 mit einer Entzündung der Patellasehne herum, Sami Khedira zog sich sieben Monate vor Turnierstart gar einen Kreuzbandriss zu. Dennoch waren beide in Südamerika dabei und wurden erst im Laufe des deutschen Trainingslagers und gar noch nach Turnierstart durch dosierte Einsatzzeiten in der Gruppenphase behutsam wieder an ihre physische Bestform herangeführt.
Beide erarbeiteten sich im Laufe des Turniers den Status wichtiger Säulen auf dem Weg zum vierten Weltmeistertitel, was Löw in seinem Vorgehen bestärkte.
Jüngstes Beispiel für Löws Festhalten an angeschlagenen Leistungsträgern ist Manuel Neuer, dessen Einsatzfähigkeit für die WM weiterhin nicht restlos geklärt ist. Allerdings betonte Löw auch bei seinem Torwart zuletzt immer wieder seine Zuversicht und seine Bereitschaft, im Zweifelsfall bis zuletzt abwarten zu wollen.
Ähnlich wird Löw wohl auch bei Boateng verfahren und ihn im Zweifelsfall erst ab dem Achtelfinale wieder als festen Bestandteil in der deutschen Abwehrkette verankern. Mit all seiner Erfahrung und seinem selbst deklarierten Anspruch als Führungsspieler, stellt Boateng den Typ Spieler dar, auf den Löw ab der K.o.-Phase nicht verzichten wollen wird. Ein Typ Spieler eben, mit dem man die Weltmeisterschaft gewinnen kann.