Da war er, dieser Gänsehaut-Moment. Die Erkenntnis, dass all die Mythen, all die Geschichten, die sich um die Liverpooler Anfield Road ranken, wahr sind. "You'll Never Walk Alone", die Mutter der Fußballhymnen, inbrünstig vorgetragen aus abertausenden Kehlen. Fahnenmeer, ein Ambiente ohne Hass und Missgunst - die Schönheit der Fankultur in ihrer reinsten Form. Eine magische Szenerie für jeden, der diesen Sport ins Herz geschlossen hat.
Und die wenige Augenblicke urplötzlich ihren Charme verlor, weil sich die Verantwortlichen dazu entschlossen - vermutlich um den von der UEFA durchgetakteten Zeitplan nicht zu durchkreuzen - die Champions-League-Hymne mitten in den Gesang des Reds-Anhangs zu schalten.
Zwei Lieder, die für sich genommen jeweils legendär sind, aber nun wirklich kaum Zauber entfalten, wenn sie gleichzeitig vorgetragen werden. Ein akustisches Wirrwarr, das später sinnbildlich für die Verteidigung des FC Bayern hätte stehen können - hätte sie sich doch nur an die Regelmäßigkeit ihrer jüngsten Eskapaden und die Prophezeiungen etlicher Experten gehalten.
Kovac über Auftritt gegen Liverpool: "Richtig klasse gespielt"
Doch ausgerechnet gegen den im Vorfeld so gefürchteten FC Liverpool warteten die Münchner in allen Mannschaftsteilen mit Disziplin im Defensivspiel auf und blieben beim 0:0 erstmals in diesem Kalenderjahr ohne Gegentor. Ein Erfolg, den sich Trainer Niko Kovac auf die Fahne schreiben durfte und das auch tat.
"Wir haben heute richtig klasse gespielt. Wir waren taktisch gut eingestellt und die Jungs haben es sehr gut auf dem Feld umgesetzt", erklärte der Kroate nach der Begegnung bei Sky. Er ergänzte: "Jeder war für den anderen da und man sieht, dass es schwierig ist, ein Tor gegen uns zu erzielen, wenn wir eine Struktur in unserem Spiel haben."
Tatsächlich war eine Struktur zu erkennen, die man beim deutschen Rekordmeister nur selten zu Gesicht bekommt: Zurückziehen, Räume eng machen und auf Konter lauern. Die Marschroute, die Kovac bei Eintracht Frankfurt erfolgreich etabliert und seinen heutigen Arbeitgeber mit ebenjener Taktik im DFB-Pokal-Finale gehörig getriezt hatte.
Karl-Heinz Rummenigge: "Einer für alle, alle für einen"
"Das war ein wichtiges Spiel für ihn (Kovac, Anm. d. Red.)", sagte Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge in der Mixed-Zone. "In der K.o.-Phase der Champions League kommen jetzt die großen Kracher, bei denen man als Trainer besonderen taktischen Einfluss hat. Die Burschen haben das, was er vorgegeben hat, sehr gut umgesetzt und kaum etwas zugelassen." Der 63-Jährige lobte weiter: "Sepp Herberger hätte heute seine wahre Freude gehabt. Einer für alle und alle für einen."
Oder eben ein You'll Never Walk Alone auf Bayrisch.
Generell stand nach dem torlosen Remis die mannschaftliche Geschlossenheit bei allen Beteiligten aufseiten der Bayern im Vordergrund. "Alle haben mitgemacht, das war wichtig", sagte Kapitän Manuel Neuer beispielsweise, auch Mats Hummels wollte niemanden hervorheben, obwohl er selbst gemeinsam mit Javi Martinez zu den Besten im vereinten Ensemble zählte. Es sei nicht auf "einzelne Personen zu beziehen", sagte der Innenverteidiger, der in den vergangenen Wochen ebenfalls mit einigen schwerwiegenden Wacklern zu kämpfen hatte. Hummels schob nach: "Wir haben sehr diszipliniert gespielt und unsere Positionen gehalten."
Selbst Liverpool-Coach Jürgen Klopp zeigte sich beeindruckt vom sattelfesten Auftritt der Gäste: "Die letzte Linie von Bayern hat richtig gut gespielt. Wenn du dann davor noch Martinez stehen hast, ist das schon gut. Neben Thiago, der ein Weltklasse-Fußballer ist. Ich habe auch Gnabry noch nie so gut verteidigen sehen."
Ähnliches galt auch für Angreifer Robert Lewandowski, der den ersten Defensivmann mimte, manchmal den bisweilen unsicher wirkenden LFC-Torwart Alisson anlief, sich aber die meiste Zeit auf seine Aufgaben im Verbund konzentrierte. "Das war ein Zweikampfspiel, weil wir wussten, dass Liverpool zuhause sehr stark ist. Deshalb haben wir mit weniger Risiko gespielt und standen kompakt. Das war der Plan", sagte der Pole, der kurz vor Abpfiff fast schon symbolisch für die Einer-für-alle-Mentalität eine klärende Grätsche am eigenen Strafraum auspackte.
Kovacs Theorie zur Champions League: "Spieler werfen hier mehr rein"
Doch woher rührte das plötzlich so geschlossene Auftreten, das Absichern, die von Hummels bemühte Disziplin? All das, was in der Bundesliga - zumindest partiell - zuletzt abhanden gekommen schien, als sich der Dauerdominator etliche unnötige Gegentreffer einhandelte? Kovac hatte seine ganze eigene, etwas kuriose Theorie: "Die Bundesliga ist wichtig, aber viele Spieler sehen die Champions League noch etwas größer und werfen dann hier mehr rein", mutmaßte der 47-Jährige. "Ich würde mir wünschen, dass die Jungs das auch in der Bundesliga wieder machen."
Klar ist, dass der Bollwerk-Trend bereits am kommenden Samstag schon wieder zu den Akten gelegt wird. Dann kommt es in der heimischen Allianz Arena zum Wiedersehen mit der Hertha aus Berlin, die vor zwei Wochen im DFB-Pokal-Achtelfinale erst in der Verlängerung niedergerungen worden war. Hummels, dessen Kopfballrückgaben-Patzer die Hauptstädter zurück ins Spiel gebracht hatte, prophezeite: "Am Wochenende gegen Berlin erwarten wir, dass die Hertha sich tiefer aufstellt als Liverpool. Man kann eine Partie nicht auf eine andere übertragen."
Erfreulich wäre es aus Bayern-Sicht jedoch, könnte man zumindest die Geschlossenheit und Konzentration auf die anstehenden Partien im deutschen Oberhaus übertragen. Ansonsten würde es sich lediglich um ein temporäres, 90 Minuten andauerndes You'll Never Walk Alone handeln. Eines, das später einfach von einem anderen Lied überspielt wird.