Vielleicht hatte Joshua Kimmich insgeheim auf eine bereits verwaiste Mixed Zone gehofft, als er um kurz vor 22 Uhr aus dem Innenraum marschierte. Zunächst sichtlich mit dem Gedanken ringend, die ausharrende Reporterschar an diesem Abend freundlich abzuwimmeln, stellte sich der Rechtsverteidiger letztlich doch. "Habt Ihr etwa extra auf mich gewartet?", erkundigte er sich mit einem breiten Grinsen, ehe er seinen Platz vor der Werbebande einnahm.
Nach dem 5:0 des FC Bayern über Borussia Dortmund hatte Kimmich allen Grund, gute Laune zu verbreiten. Die Münchner hatten immerhin mit dem "besten Spiel der Saison", wie Sportdirektor Hasan Salihamidzic es ausdrückte, den bis dato extrem hartnäckigen Konkurrenten im Rennen um die deutsche Meisterschaft über 90 Minuten vorgeführt und den Platz an der Sonne nach einer Woche Tabellenführungsabstinenz zurückerkämpft.
Im Vorfeld der Begegnung wurde vor allem medial darüber spekuliert, ob der Sieger in der Folge auch die begehrte Schale - wahlweise auf dem Marien- oder auf dem Dortmunder Borsigplatz - präsentieren darf. Ein angebliches Entscheidungsspiel.
Bayerns Gretchenfrage: Warum nicht immer so?
Ein Entscheidungs- und Spitzenspiel gleichermaßen, in dem der Rekordmeister sich so abgeklärt, so gierig, so torhungrig präsentierte, als sei es das Normalste überhaupt. So, wie in den vergangenen Jahren, als die restlichen Bundesliga-Klubs dem Primus beim Enteilen nur mit dem viel zitierten Fernglas hinterherschauen durften.
"Wir mussten gewinnen und wollten von Anfang an Druck machen", sagte Kimmich und schob nach: "Man muss sagen, dass der Sieg auch in der Höhe verdient war." Zustimmendes Nicken aller Anwesenden im Bauch der Allianz Arena und eine folgerichtige Frage: "Warum nicht immer so?"
"Das ist eine gute Frage", entgegnete Salihamidzic ebenda mit Hinblick auf die Ereignisse aus den Tagen zuvor. Denn: Am Mittwoch noch hatte der FCB ein anderes Gesicht gezeigt, beim denkwürdigen 5:4-Sieg gegen Zweitligist Heidenheim genau die Schwächen offenbart, die bei Fans, Presse, Trainern, Funktionären und Spielern seit Monaten thematisiert werden: Strauchelnde Defensive, mangelnde Einstellung, wenn es gegen die vermeintlich Kleinen geht.
"Saison hat gezeigt, dass diese Spiele schwieriger waren"
Auch am vorvergangenen Samstag, als der haushohe Favorit in Freiburg die erste Hälfte verschlief und schließlich - aufgrund eklatanter Chancenverwertung - nur ein 1:1 heraussprang, sahen sich die Protagonisten mit Kritik konfrontiert. Brazzo hatte im Schwarzwaldstadion nicht das Gefühl, "dass wir unbedingt gewinnen wollten."
Deutliche Worte, die von Kimmich nach der Gala gegen den BVB eingeordnet wurden: "Die Saison hat gezeigt, dass diese Spiele deutlich schwieriger waren. Da haben wir uns schwerer getan, hatten Probleme. Vor allem in der Vorrunde, aber auch zuletzt gegen Heidenheim und in Freiburg. Das sind Spiele, in denen man es schaffen muss, im Kopf 100 Prozent motiviert zu sein."
Dass diese Marschroute in der laufenden Spielzeit nicht immer aufging, zeigen etliche von Kimmich als "in der Vorrunde" zusammengefasste Ergebnisse gegen Düsseldorf (3:3), Augsburg (1:1), Freiburg (1:1) und Hertha BSC (0:2).
Thomas Müller mimt den Mahner
Ausreichend Erfahrungen, die viele Anhänger der Schwarz-Gelben im Zuge der Demütigung in der bayrischen Landeshauptstadt dennoch dazu veranlassen, sich weiterhin Hoffnungen auf die erste Meisterschaft nach sechs Spielzeiten Bayern-Dominanz machen zu dürfen. Das Restprogramm hält für die Mannschaft von Trainer Niko Kovac noch zahlreiche typische David-gegen-Goliath-Spiele und somit potenzielle Stolpersteine bereit.
Einer davon könnte bereits die formstarke Fortuna aus Düsseldorf sein. Dementsprechend prophezeite Thomas Müller: "Wir wissen, dass die Auswärtsspiele in Düsseldorf und Nürnberg kein Zuckerschlecken werden. Die Mannschaften kämpfen auch um die Punkte, vor allem Düsseldorf macht es sehr gut im Moment."
Der Angreifer weiß zudem, wie abrupt die gute Stimmung in den kommenden Wochen wieder ins Gegenteil schlagen kann. "Wir wissen alle, wie schnelllebig das Geschäft ist. Wir genießen, dass wir heute eine Leistung gezeigt haben wie schon lange nicht mehr. Das wollen wir jetzt weitestgehend mitnehmen", sagte er, gab jedoch zu bedenken: "Wenn das nächste Woche nicht mehr so ist, ist das auch wieder dahin. Man sieht ja, wie es gehen kann. Wir köpfen in Freiburg in der letzten Minute den Ball an den Pfosten und Dortmund gewinnt in der letzten Minute gegen Wolfsburg."
Neuer: "Wir haben nur noch Finals"
Viele Verantwortliche appellierten deshalb daran, den entfachten Schwung mit in die anstehenden Duelle zu nehmen. Niklas Süle etwa sagte: "Wir haben noch sechs schwere Spiele vor der Brust. Das wichtigste ist, dass wir zusammen angreifen und verteidigen. Es muss immer so sein, wie es heute war", ehe Salihamidzic vorgab: "Wir müssen schauen, dass wir das in den anderen Spielen auch auf den Platz bringen. Genau so müssen wir auch in Düsseldorf spielen."
Laut Kapitän Manuel Neuer, der ebenfalls auf die schwankenden, teils achterbahnartigen Leistungen angesprochen wurde, habe man sich für den Saisonendspurt vorgenommen, zur gewohnten Konstanz zurückzukehren. "Wir haben nur noch Finals. Wir wollen so weitermachen. Eine gute Defensivleistung wird für die nächsten Spiele elementar wichtig."
Genau daran haperte es allerdings vor allem gegen Teams, die sich deutlich mutiger präsentierten als Dortmund am Samstagabend. Gegen die Underdogs, die sich trauten, die nicht immer sattelfeste Defensive der Münchner anzupressen. Und so ließ auch Kimmich durchblicken, bevor er sich auf den Weg in die Nacht machte, dass es sich bei dem Kantersieg nicht zwangsläufig um einen abschließenden Wendepunkt im Kampf um den Titel handelte: "Gefühlt gab es schon einige Wendepunkte. Dann haben wir es zum Beispiel gegen Freiburg verbockt, das muss man ganz ehrlich sagen. Da hat man schon gedacht: 'Okay, vielleicht ist das noch entscheidend.'"
Mitte Mai weiß man, wie viel der beeindruckende Auftritt gegen den BVB wert war.