Beim FC Bayern München spielten zuletzt zwei unterschiedliche Innenverteidiger-Typen nebeneinander. Der unkonventionelle Part gab dabei die Richtung vor.
Jerome Boatengs Mimik verrät für gewöhnlich selten etwas über seine Gefühlslage, wenn er nach einer Partie durch die Mixed-Zone marschiert. Den Blick stets nach vorn gerichtet, wahlweise das Handy am Ohr haltend oder einen Smoothie-to-go-Becher gen Mund führend, verschwindet der Defensivmann traditionell als einer der ersten Bayern-Spieler aus der Allianz Arena.
Auch an diesem ungemütlichen Samstagnachmittag, nachdem der deutsche Rekordmeister Werder Bremen mit 6:1 abgefertigt hatte, zog der 31-Jährige wortlos von dannen.
Konträr dazu präsentierte sich David Alaba im Anschluss. Der Österreicher, der mit einem Abschied aus München 2021 liebäugelt, kam mit breitem Grinsen aus der Kabine und stellte sich bereitwillig den Fragen der anwesenden Reporter, scherzte als er die Leistung des Dreifachtorschützen Philippe Coutinhos zusammenfasste.
"Wenn man sich das Spiel heute angeschaut hat, dann müssen wir ihn holen, oder?", antwortete er beispielsweise auf die Frage, ob sein Klub die Kaufoption für den Brasilianer im Sommer ziehen solle. Obwohl Alaba - zugegebenermaßen - generell auskunftsfreudiger daherkommt als Teamkollege Boateng, stand die Szene sinnbildlich für das, was sich zuvor auf dem Feld ereignet hatte.
gettyBoateng gegen Werder Bremen mit gebrauchtem Tag
Boateng, der früh die Gelbe Karte sah, vor dem zwischenzeitlichen Rückstand vom flinken Werder-Angreifer Milot Rashica erst überlaufen, dann düpiert wurde und zur Halbzeit Feierabend hatte, auf der einen Seite - und Alaba, der vor allem in den zweiten 45 Minuten mit seinem Offensivdrang zu gefallen wusste und eine Zweikampfbilanz von hundert Prozent verbuchte (Boateng gewann nur ein Viertel seiner direkten Duelle), auf der anderen.
Freilich wollte der gebürtige Wiener im Gespräch mit den Journalisten keine Kritik an seinem unglücklich agierenden Mitspieler äußern, dennoch fasste er die Defizite Boatengs ungewollt zusammen: "Jerome musste sein Spiel in der ersten Halbzeit umstellen, weil er mit einer Gelben Karte vorbelastet war. Da geht man als Innenverteidiger anders an die Sache heran. Das war dem Trainer zu gefährlich, deshalb hat er umgestellt." Boateng sei ein "klasse Spieler", stellte Alaba klar, führte aber aus: "Wir spielen im Moment mit viel Risiko, stehen sehr, sehr hoch. Da kommt so etwas vor."
Genau darin liegt die Problematik, mit der Boateng im System von Hansi Flick zu kämpfen hat. Als Innenverteidiger der alten Schule, der in den vergangenen Jahren erheblich an Geschwindigkeit einbüßte, wartet der Weltmeister von 2014 zwar mit Qualitäten beispielsweise im Stellungsspiel und in der Luft auf. Flick fordert aber von seiner Viererkette, dass sie hoch verteidigt, bei gegnerischem Ballbesitz teilweise knapp hinter die Mittellinie schiebt.
Selbiges gilt für das eigene Spiel mit Ball. Heißt: Gegen Mannschaften, die ihr Heil gegen die Bayern im Umschaltspiel suchen und mit schnellen Kontern zum Erfolg kommen möchten, ergeben sich zwangsläufig Räume hinter dem Defensivverbund, in die wahlweise mit Schnittstellenpässen oder Dribblings hineingestoßen wird.
FC Bayern kassiert ähnliche Gegentore wie gegen Leverkusen
Das nutzte nicht nur Bremens Rashica am Samstag aus, auch Leon Bailey von Bayer Leverkusen traf zwei Wochen zuvor auf ähnliche Weise - sogar doppelt. Damals war es allerdings nicht Boateng, sondern Javi Martinez, der nur die Hacken des gegnerischen Angreifers sah. Trotz der offensichtlichen Gefahren, die mit dem Vorwärtsverteidigen verbunden sind, scheint jene Marschroute insgesamt allerdings Früchte zu tragen. "Wie wir mit der Viererkette auftreten, gefällt mir sehr gut", sagte Alaba und schob nach: "Wir spielen mutig gegen den Ball. Das ist eine Spielweise, die uns liegt und viel Spaß macht."
Vor allem Alaba, eigentlich nur als Innenverteidiger im Einsatz, weil mit Lucas Hernandez und Niklas Süle gleich zwei potenzielle Stammspieler für diese Position an Verletzungen laborieren, blüht in seiner Rolle als Aushilfe richtig auf. "Wir haben einige verletzte Spieler. Wenn die zurückkommen, weiß ich auch nicht, wie es dann aussieht", sagte er hinsichtlich einer möglichen Weiterbeschäftigung im Abwehrzentrum. Grundsätzlich mache er sich diesbezüglich "keine Gedanken."
FC Bayern: Die Innenverteidiger im Statistik-Vergleich
Spieler | Minuten | Zweikampfquote | gew. Kopfballduelle | Passquote | Balleroberungen | Geschwindigkeit |
Niklas Süle | 642 | 75,61 Prozent | 16 von 19 | 91,71 Prozent | 39 | 33.18 km/h |
Lucas Hernandez | 482 | 67,31 Prozent | 9 von 10 | 88,05 Prozent | 19 | 33.10 km/h |
Jerome Boateng | 496 | 55,56 Prozent | 11 von 21 | 88,82 Prozent | 32 | 33.74 km/h |
Javi Martinez | 487 | 65,38 Prozent | 16 von 22 | 91,99 Prozent | 39 | 31.25 km/h |
Benjamin Pavard | 1170 | 59,78 Prozent | 35 von 52 | 90,05 Prozent | 72 | 32.53 km/h |
Alaba "nicht wie ein klassischer Innenverteidiger"
Doch warum läuft es für Alaba so gut, seit er aus der Not heraus von der linken Abwehrseite in die Mitte gerückt ist, warum ist er, der "Ungelernte", mittlerweile Flicks A-Option? Einen möglichen Ansatz lieferte er nach dem Schützenfest über Bremen selbst: "Ich glaube, dass ich die Position einfach anders spiele. Ich interpretiere sie nicht wie ein klassischer Innenverteidiger, sondern mit einer offensiven Denkweise. Ich bekleide die Rolle mit diesem Verständnis."
Quasi eine unkonventionelle Auslegung des Ganzen, während Boateng und auch Martinez die Aufgabe eher im klassischen Sinne begreifen, den Fokus vor allem auf Robustheit im Zweikampf und Erfahrung legen. Eine Position, zwei verschiedene Spielertypen, die in den vergangenen Wochen immer wieder Seit an Seit verteidigten.
So deutlich wie im Spiel gegen Bremen hatte sich zuvor selten gezeigt, welche Eigenschaften sich besser für das Flick'sche Vorhaben eignen und somit zukunftsträchtiger mit Blick auf die restliche Saison, die mit großer Wahrscheinlichkeit unter der Ägide des einstigen Co-Bundestrainers bis zum Sommer fortgesetzt wird. So gegensätzlich wie Boatengs und Alabas Mixed-Zone-Auftritt liefen nämlich die beiden Halbzeiten ab. Erst als Flick in der Pause Umstellungen vornahm, Pavard von rechts neben Alaba beorderte und Kimmich nach hinten zog, auf dessen ehemalige Rechtsverteidigerposition, lief es für die Hausherren wieder rund.
gettyFC Bayern gegen Werder: Die Halbzeitpause als Wendepunkt
Dementsprechend einig waren sich die Protagonisten nach dem Spiel, als es darum ging, den Wendepunkt der Begegnung auszumachen. "Bremen hat das in der ersten Halbzeit gut gemacht. Sie haben schnell umgeschaltet und in die Stellen gespielt, in denen wir nicht gut verteidigt haben", befand Sportdirektor Hasan Salihamidzic und ergänzte: "In der zweiten Halbzeit hatten wir unsere Kontrolle zurück, den Ball laufen gelassen." Robert Lewandowski sagte: "In der ersten Halbzeit hatten wir Probleme. Wir haben dann in der Halbzeit besprochen, was wir besser machen müssen. Wir haben die Aufstellung geändert und etwas einfacher gespielt."
Auf Boatengs gebrauchten Nachmittag angesprochen, verwies Salihamidzic lieber auf die Stärke Rashicas und lobte den Kosovaren für dessen Einzelleistung: "Das war einfach gut gemacht. Er ist sehr schnell und hat viele Freiräume angegriffen." Freiräume, die es später nicht mehr gab.