Jerome Boateng vom FC Bayern München äußert sich via Social Media häufig zu gesellschaftlichen Themen. Im Interview mit SPOX und Goal spricht der Innenverteidiger über seine Hoffnungen mit Blick auf die US-Wahl, Rassismus, seine damit verbundenen Ängste und seine Pläne für die Zeit nach dem Karriereende.
Boateng erklärt außerdem, was der Fußball aus der Corona-Krise lernen sollte, mit welchen Worten Hansi Flick ihn zum Bleiben bewegt und was ihn 2019 gestört hat.
Zudem hält er einen Rat für seinen Kumpel David Alaba bereit und verrät, warum ihn die Berichterstattung rund um seinen angeblich beschlossenen Abgang überrascht hat.
Herr Boateng, die US-Wahlen haben in den vergangenen Wochen die globale Berichterstattung bestimmt. Sie gelten als Fan der Staaten und haben der designierten Vizepräsidentin gratuliert. Was hat das Ergebnis in Ihnen ausgelöst?
Jerome Boateng: In erster Linie Hoffnung. Ich hoffe, dass sich in Zukunft etwas ändert und die Versprechungen, das Land zu einen, gehalten werden. Ich würde mir wünschen, dass die Unruhen im Land aufhören und man wieder mit einem schönen Gefühl in die USA reisen kann.
Quarterback Colin Kaepernick kniete bei der Hymne, um aufzurütteln, Black Lives Matter wurde zu einer riesigen Bewegung. Präsident Donald Trump bezeichnete Kaepernick als "Hurensohn" und BLM als "Linksradikale". Wie kommen solche Äußerungen bei Ihnen an?
Boateng: Das macht mich traurig und wenn ich ehrlich bin auch ein wenig wütend. Man denkt, man sei in einem schlechten Film aus einer anderen Zeit, weil das Ganze so unrealistisch erscheint. Wir haben das Jahr 2020 und da werden in einem Land, das für sich beansprucht, modern und offen zu sein, solche Äußerungen getätigt. Das ist doch unglaublich.
Inwiefern nähren derartige Entwicklungen Zukunftsängste?
Boateng: Auch meine Kinder bekommen diese Vorfälle mit und sprechen in der Schule darüber. Ich möchte nicht, dass meine Tochter Angst haben muss, irgendwo hinzufahren oder hinzufliegen. Vor allem, weil ich die USA eigentlich anders in Erinnerung habe und das Land und seine Kultur sehr schätze.
BLM schwappte auch nach Deutschland, Jadon Sancho und Marcus Thuram bekannten sich zur Bewegung. Warum beziehen Sportler heutzutage häufiger politisch Stellung als früher?
Boateng: Vor allem, weil in diesem Fall die Ereignisse so präsent sind. Immerhin wurden viele rassistische Übergriffe auf Kamera festgehalten. Früher hat man derartige Vorfälle vielleicht mitbekommen, aber es gab keine konkreten Beweise. Die Menschen haben lange weggeschaut, vermutlich aus Angst. Das muss aufhören! Deshalb ist es wichtig, dass wir Sportler unsere Stimme erheben und gegensteuern. Wir stehen in der Öffentlichkeit und werden deshalb mehr wahrgenommen als Menschen, die weniger bekannt sind. Aber alle Menschen sollten Kante zeigen und sich gegen Rassismus positionieren.
Boateng: "Diskriminierung jeder Form ist nie zu tolerieren"
Wie können Sportler wie Sie oder LeBron James bezüglich politischer Debatten aufrütteln?
Boateng: Indem wir immer wieder auf Missstände aufmerksam machen. LeBron James hat als weltweiter Mega-Star noch mehr Reichweite als ich, aber auch ich sehe mich in der Pflicht, für Gerechtigkeit einzutreten. Das betrifft auch nicht nur Schwarze, es geht mir um Diskriminierung in jeder Form. Das ist nie zu tolerieren.
Einige Menschen fordern, dass Sport und Politik getrennt werden sollten. Was halten Sie diesen Menschen entgegen?
Boateng: Auch wir Sportler haben unsere Meinung und die sollte gehört werden. Ich würde mich nicht zu Themen äußern, von denen ich keine Ahnung habe. Aber zu Angelegenheiten, mit denen ich mich befasse oder die mich sogar direkt betreffen, beziehe ich Stellung. Das ist bei Rassismus der Fall.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie selbst aktiv werden möchten, um gegen Rassismus vorzugehen. Wie möchten Sie das tun?
Boateng: Ich werde im nächsten Jahr etwas ins Leben rufen. Darüber kann ich noch keine detaillierten Auskünfte geben, aber es ist definitiv etwas in Planung.
Neben der Rassismus-Thematik beschäftigt uns seit einigen Monaten die weltweite Corona-Pandemie. Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um?
Boateng: Das Thema ist omnipräsent. Gerade als Vater schulpflichtiger Kinder bekommt man einiges mit. Das Ganze hat ein unglaubliches Ausmaß angenommen, die Zahlen steigen wieder. Ich hoffe natürlich, dass wir bald wieder zur Normalität zurückkehren können.
Das würde auch bedeuten, wieder in vollen Stadien spielen zu können.
Boateng: Natürlich würden wir gerne wieder vor Publikum spielen, aber in erster Linie geht es um die Gesundheit der Menschen, um Existenzen. Die Gastronomen müssen zum Beispiel ihre Restaurants oder Bars schließen, viele Menschen stehen vor der Pleite, und es ist wichtig, all diesen Menschen zu helfen. Ich hoffe, dass wir lernen, unser Leben und unsere Privilegien nach der Krise wieder mehr wertzuschätzen.
Boateng: "Rashford agiert absolut vorbildlich"
Lange war die Marschroute im Profi-Fußball: höher, schneller, weiter. Was kann die Branche aus dieser Zeit lernen?
Boateng: In dieser Zeit sind alle gefordert und auch der Fußball wird sich hinterfragen müssen. Ich verstehe, dass für Menschen mit Existenzängsten die hohen Summen im Fußball aktuell schwer nachzuvollziehen sind.
Sie haben zu Beginn der Corona-Krise bei der Münchner Tafel ausgeholfen. Wie kam es dazu?
Boateng: Ich stand schon länger mit Mitarbeitern der Tafel in Kontakt, weil ich helfen wollte. Es darf nicht sein, dass sich Menschen oder ganze Familien keine Lebensmittel leisten können. Es werden so viele Nahrungsmittel weggeschmissen, warum gibt es kein zufriedenstellendes Konzept, das gewährleistet, dass jeder ausreichend Essen hat? Auch diesbezüglich sind wir Sportler gefragt. Marcus Rashford hat zum Beispiel für dieses Thema sensibilisiert und insbesondere Kinderarmut ins Bewusstsein der Leute gerufen.
Und wurde für sein Engagement vor Kurzem zum Ritter geschlagen.
Boateng: Er ist schon sehr weit für sein Alter und agiert absolut vorbildlich. Man kann ihm für sein Engagement nur ein großes Kompliment aussprechen.
So positiv das Echo auf Rashfords Engagement ausfiel, so negativ werden gerade Fußballer mitunter kritisiert. Inwiefern fühlen Sie sich manchmal von den Medien missverstanden?
Boateng: Ich kann damit leben, weil ich weiß, wie es läuft. Es ist völlig legitim, über Fehler zu berichten. Aber es kommt auf die Art und Weise an. Ich bin der Meinung, dass in Deutschland oftmals das Fingerspitzengefühl in der Berichterstattung fehlt.
Sie sagten, es gäbe viele Beispiele. Welches würden Sie konkret nennen?
Boateng: 2019, als ich bei der Meisterfeier nicht in Feierlaune war, wurde ich von vielen Seiten dafür kritisiert. Die Hintergründe und Details interessierten aber kaum jemanden. Das finde ich manchmal schade. Die Phase damals hat mir gezeigt, wie schnell alles umschlagen kann.
Jerome Boateng über Hansi Flick und Jupp Heynckes
Auch in die andere Richtung, wie Ihre Entwicklung unter Hansi Flick gezeigt hat. Wie würden Sie das vergangene Jahr persönlich skizzieren?
Boateng: Ich brauche Vertrauen, ich muss Spaß am Fußball haben und mit Freude zum Training fahren. Es geht gar nicht darum, dass ich jedes Spiel mache. Es geht darum, dass respektvoll miteinander umgegangen wird. Hansi Flick zeigt aufrichtiges Interesse an den Menschen und ist ehrlich zu einem.
Zwischenzeitlich stand ein Abgang im Raum. Fällt Ihnen ein konkretes Gespräch mit Hansi Flick ein, das Sie zum Umdenken bewogen hat?
Boateng: Kurz nachdem er übernommen hatte, sagte er: 'Jerome, ich weiß, was Du kannst. Das Wichtigste ist, dass Du fit wirst.' Im Dezember sagte er, dass es meine Entscheidung sei, ob ich gehe oder bleibe. Er sagte aber, dass er sich freuen würde, wenn ich bleibe. Hansi Flick versicherte mir, dass ich dieselben Chancen wie alle anderen bekomme, wenn ich meine Leistung bringe. Das hat mir gereicht.
Sie haben während Ihrer Karriere etliche Trainer erlebt. Mit wem würden Sie Hansi Flick vergleichen?
Boateng: Alle sagen sofort: Jupp Heynckes - und das stimmt auch. Auch Jupp hat sich sehr für den Menschen interessiert und wollte immer helfen. Wenn er dich kritisiert hat, hat dich das weitergebracht. Das war konstruktiv und kein Draufhauen, nur um sich selbst aus der Schussbahn zu nehmen.
In welchem Bereich würden Sie Hansi Flick ein Alleinstellungsmerkmal attestieren?
Boateng: Es ist eine andere Zeit, wir spielen einen anderen Fußball. Hansi Flick setzt sich sehr viel mit dieser modernen Spielphilosophie auseinander. Er war bei einigen Vereinen, hat während seiner Hospitationen viel mitgenommen. Jupp Heynckes hat einmal erzählt, dass er selbst erst zum Ende seiner Laufbahn eine gewisse Entspanntheit entwickelt hat. Diese Entspanntheit hat Hansi jetzt schon, das ist beeindruckend.
Boateng über das DFB-Team und das Champions-League-Finale
Bei der Nationalmannschaft war Hansi Flick bekanntlich Co. von Joachim Löw. Dieser schloss ein DFB-Comeback des verstoßenen Trios abermals nach dem 0:6 gegen Spanien quasi aus. Wie fiel Ihre Reaktion aus?
Boateng: Das wurde im vergangenen Jahr bereits klar kommuniziert. Der DFB hat sich für diesen Weg entschieden, das muss man respektieren - und das tue ich.
Viele Experten und Fans forderten Sie mit Blick auf die EM vehement zurück ins Team. Wären Sie bereit, doch noch einmal für Deutschland aufzulaufen?
Boateng: Meinen Standpunkt dazu habe ich mehrfach geäußert, und auch die Verantwortlichen des DFB haben das getan. Grundsätzlich schließe ich es nicht aus, es käme aber auch darauf an, wie ich mich in dem Moment fühle.
Im Champions-League-Finale mussten Sie früh verletzungsbedingt vom Platz. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Boateng: Ich war natürlich total traurig, weil ich so lange dafür gearbeitet habe. Aber trotzdem hat sich die Arbeit ja ausgezahlt.
Welche Emotionen wurden im Moment des Abpfiffs frei?
Boateng: Das war unglaublich. Diesen Erfolg mit der Mannschaft zu erreichen, vor allem nach der schwierigen Zeit im Vorjahr, kann man nicht in Worte fassen. In diesem Moment habe ich auch nicht mehr über die Verletzung nachgedacht, sondern einfach nur gejubelt.
Robert Lewandowski hat im Goal-Interview verraten, dass es positiv war, nicht lange über das Erreichte nachdenken zu können, weil der Siegermodus beibehalten wurde. Wie sehen Sie das?
Boateng: Das stimmt und das zeigt den Charakter dieser Mannschaft. Es herrscht ein großer Konkurrenzkampf, auch im Training. Jeder will immer gewinnen und sich weiterentwickeln. Beim FC Bayern sind wir nicht zufrieden, wenn wir unentschieden spielen. Das unterscheidet uns von anderen Mannschaften.
Boateng: "Mein Fokus liegt zu 100 Prozent auf dem FC Bayern"
Die Bild-Zeitung berichtete vergangene Woche, dass Ihr Vertrag nicht verlängert werden soll.
Boateng: Ich war über die Berichterstattung überrascht und hätte mir gewünscht, dass man sich vorher zusammensetzt. Jetzt beschäftige ich mich damit aber nicht mehr. Ich habe auch immer gesagt, dass ich gerne noch einmal etwas Anderes kennenlernen und eine neue Herausforderung annehmen möchte. Ich fühle mich richtig gut und topfit und habe in den letzten Monaten abgeliefert und meine Leistungen gebracht. Das ist auch das Feedback, das ich von Hansi Flick und meinen Mitspielern bekomme. Das ist das Wichtigste für mich. Mein Fokus liegt zu 100 Prozent darauf, mit dem Verein die fünf Titel aus der letzten Saison zu verteidigen. Wenn der Tag kommt, an dem die Wege sich trennen, werde ich stolz auf die Jahre und viele Erfolge mit diesem Verein zurückblicken. Nicht viele Fußballer dürfen so etwas erleben. Gleichzeitig blicke ich voller Motivation nach vorne und freue mich auf das, was kommt.
Ihr langjähriger Mitspieler und Freund David Alaba scheint seinen Vertrag nicht zu verlängern. Er wurde als geldgierig dargestellt. Wie sieht der Austausch zwischen Ihnen beiden aus?
Boateng: Das ist ein ganz schwieriges Thema. Ich kenne die Details nicht und kann mich dementsprechend nicht äußern. Ich weiß, dass David ein toller Typ und Fußballer ist - und kann nur sagen, dass es seinem Charakter nicht gerecht wird, wenn er in der Berichterstattung als geldgierig dargestellt wird.
Was würden Sie ihm als Freund raten?
Boateng: Ich rate ihm, auf sein Herz zu hören. Ich schätze ihn als wunderbaren Menschen. Ich hoffe für den FC Bayern, dass er bleibt. Aber David ist in erster Linie mein Freund, er soll glücklich werden.
Sie haben über viele Jahre auf hohem Niveau gespielt, sind Deutschland aber - bis auf ein kurzes Engagement in England bei Manchester City - immer treu geblieben. Warum hat es Sie nicht längerfristig ins Ausland gezogen?
Boateng: Weil Deutschland ein unglaublich hohes Level an Lebensqualität hat. Ich habe mich in München über die meiste Zeit pudelwohl gefühlt, hier passt alles. Auch die Tatsache, dass meine Heimatstadt Berlin schnell zu erreichen ist, spielte immer eine Rolle. Meine Kinder sind hier aufgewachsen, ich habe viele tolle Menschen in München kennengelernt
Dennoch: Sie gelten als Kosmopolit. Zum Ausklang der Karriere oder für die Zeit danach - wie sehr reizen Weltstädte wie New York, Paris oder London?
Boateng: Wie Sie richtig festgestellt haben, bin ich ein Mensch, der es liebt, neue Städte, neue Kulturen und neue Menschen kennenzulernen. Ich bin auch eigentlich nicht der Typ, der gerne lange an einem Ort bleibt. Dementsprechend sind Paris, London, aber auch Städte außerhalb Europas interessant für mich.
Sie haben sich mit Ihrer Brillenkollektion und Ihrem Magazin BOA eine Marke neben dem Platz aufgebaut. Wie sieht das Leben des Jerome Boateng nach der Fußball-Karriere aus?
Boateng: Ich möchte noch mehr kreieren und mich ausleben. Das Hauptaugenmerk liegt derzeit auf dem Fußball, aber ich kann mir vorstellen, nach der Karriere in einen kreativen Bereich zu gehen.
Also kehren Sie dem Fußball den Rücken?
Boateng: Das kann gut sein.
Jerome Boateng: Leistungsdaten beim FC Bayern, HSV, ManCity, Hertha BSC
Verein | Spiele | Tore | Torvorlagen |
FC Bayern München | 333 | 9 | 24 |
Hamburger SV | 113 | 2 | 9 |
Manchester City | 24 | - | - |
Hertha BSC | 11 | - | - |