Hansi Flick ist kein Freund des Hervorhebens einzelner Spieler. Harte Individualkritik in der Öffentlichkeit ist für ihn ohnehin tabu, aber auch überschwängliches Individuallob zählt nicht zu den Lieblingsdisziplinen dieses Trainers, der vielleicht gerade wegen dieser Unaufgeregtheit vor allem menschlich so gut in der Mannschaft ankommt.
Fragt man Flick nach einzelnen Spielern, spürt man oft förmlich, dass er eigentlich gar nicht antworten will (es aber letztlich doch tut, weil er halt ein höflicher Mann ist). Flick sagt dann gerne sehr austauschbare Sätze und oft schiebt er zur Sicherheit noch hinterher: Aber das gilt übrigens für alle anderen Spieler auch!
Insofern war es durchaus beachtlich, was Flick Ende November vergangenen Jahres nach einem 3:1-Sieg beim VfB Stuttgart verkündete: "Er ist ein Genuss auf dem Trainingsplatz. Sehr positiv, immer ein Lächeln auf den Lippen. Mir macht es total Spaß mit ihm." Er, das ist der 18-jährige Tanguy Nianzou, der per Einwechslung gerade sein Debüt für den FC Bayern München gefeiert hatte.
Tanguy Nianzous Leidenszeit beim FC Bayern
Für Flick war die Arbeit auf dem Platz mit Nianzou im Spätherbst aber nur ein kurzer Genuss: Vor und nach seinem Debüt fehlte der französische Innenverteidiger wochenlang und avancierte somit zum größten Pechvogel der bisherigen Saison.
Noch vor dem Saisonstart verletzte sich der ablösefreie Neuzugang von Paris Saint-Germain bei der französischen U20-Nationalmannschaft am Oberschenkel. Nach erfolgreicher Genesung sollte der Einsatz gegen Stuttgart bis heute sein einziger für den FC Bayern bleiben, denn kurz darauf zog er sich einen Muskelbündelriss zu und fiel erneut aus.
Nun aber deutet sich ein Ende seiner Leidenszeit an. Beim 1:0-Sieg bei RB Leipzig am Samstag stand Nianzou erstmals seit vergangenem Spätherbst im Profikader des FC Bayern und womöglich wird er das auch am Mittwoch beim Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen seinen Ex-Klubs PSG, wo Nianzou weiterhin präsent ist. Und zwar als Paradebeispiel einer alarmierenden Entwicklung: dem Exodus eigener Talente.
Tanguy Nianzou und der Exodus der PSG-Talente
Im Alter von 14 Jahren wechselte der gebürtige Pariser Nianzou einst zum größten Klub der Stadt, ließ sich ausbilden, debütierte mit 17 unter Trainer Thomas Tuchel für die Profis und zog dann ablösefrei zum FC Bayern weiter. "Deutsche Klubs, allen voran Bayern München, Leipzig und Borussia Dortmund, fallen über junge Spieler her. Das ist ein großes Problem", sagte PSG-Sportdirektor Leonardo schon damals.
Vor Nianzou waren den Weg von der PSG-Jugend nach Deutschland unter anderem bereits Christopher Nkunku, Jean-Kevin Augustin (beide Leipzig), Dan-Axel Zagadou (Dortmund), Moussa Diaby (Bayer Leverkusen), Tanguy Coulibaly (VfB Stuttgart) und über den Umweg Juventus Turin auch Kingsley Coman (FC Bayern) gegangen. Zur nächsten Saison wechselt mit Soumaila Coulibaly (Dortmund) das nächste Talent nach Deutschland.
"Das Problem ist, zu denken, dass anderswo das Paradies ist. Es heißt: 'PSG hat ein Talent verloren.' Aber manchmal denke ich, dass nicht PSG verliert, sondern die Talente, die PSG verlassen", legte Leonardo neulich fast schon trotzig beim Radiosender France Bleu Paris nach und verwies auf Nianzous geringe Spielzeit beim FC Bayern - ohne aber dessen Verletzungen zu erwähnen.
Tanguy Nianzou wird eine große Zukunft vorausgesagt
Tatsächlich schadeten all den anderen Spielern die Wechsel in die Bundesliga kaum und auch Nianzou wird beim FC Bayern weiterhin eine große Zukunft zugetraut. Sportvorstand Hasan Salihamidzic, der beim Transfer eine entscheidende Rolle spielte, verweist bei jeder Gelegenheit mit neuen Superlativen auf Nianzous Talent und betont stets: "Wir werden noch viel Freude an ihm haben."
Mit so einer Entwicklung rechnen übrigens auch Bayern-externe Fußballfachleute, die sich mit Nianzou beschäftigt haben. Zsolt Löw, Tuchels Co-Trainer bei PSG und nun beim FC Chelsea, bezeichnete Nianzou im kicker etwa als "das größte Talent, das ich je gesehen habe" und Ralf Rangnick, der ihn einst nach Leipzig holen wollte, sagte bei Sport1: "Wenn er gesund bleibt, wird er in einem Jahr Stammspieler sein und einer der besten Innenverteidiger der nächsten zehn Jahre."
FC Bayern: Die Neusortierung der Innenverteidigung
Die im Sommer bevorstehende Neusortierung der Innenverteidigung des FC Bayern könnte für den wiedergenesenen Nianzou, der übrigens auch im defensiven Mittelfeld einsetzbar ist, genau zur rechten Zeit kommen.
David Alabas ablösefreier Abgang ist bereits beschlossen und auch Jerome Boateng wird den Klub wohl verlassen. Niklas Süles Entwicklung stockt etwas, eine Verlängerung seines 2022 auslaufenden Vertrags steht noch aus. Ganz fest eingeplant für die Innenverteidigung der Zukunft sind nur Rekordeinkauf Lucas Hernandez, der bisher hauptsächlich als Linksverteidiger gefragt ist, sowie Neuzugang Dayot Upamecano, der im Sommer für 42,5 Millionen Euro von Leipzig zum FC Bayern wechseln wird.
Für den bis 2024 gebundenen Nianzou könnte diese Gemengelage ohne die bisher klar vorgegebene Rangordnung zur großen Chance werden, neben Flick auch der breiten Öffentlichkeit regelmäßigen Genuss zu bieten. Ein Vorgeschmack ist sogar schon in den verbliebenen Spielen dieser Saison denkbar.
Tanguy Nianzou: Die Leistungsdaten im Profibereich
Saison | Klub | Pflichtspiele | Minuten |
2019/20 | Paris Saint-Germain | 13 | 905 |
2020/21 | FC Bayern München | 1 | 21 |