Seit der Verletzung von Benjamin Pavard, die den eigentlich unersetzlichen Rechtsverteidiger auf jeden Fall das Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Chelsea und bei erfolgreicher Qualifikation womöglich auch das Final-Turnier kostet, geht es beim FC Bayern eigentlich nur um eine Frage: Belässt Trainer Hansi Flick Joshua Kimmich trotzdem auf seiner Lieblingsposition im zentralen Mittelfeld oder beordert er ihn wieder auf die einst jahrelang von ihm ausgefüllte Position des Rechtsverteidigers?
Gar nicht diskutiert wurde auf Grund von Absurdität dagegen eine dritte Möglichkeit. Und zwar, Kimmich ganz aus der Mannschaft zu nehmen - doch genau dieser Eindruck wurde kurz vor Anpfiff des Testspiels gegen Olympique Marseille, dem einzigen des FC Bayern vor der Fortsetzung der Champions League, vermittelt. Wie immer verteilte ein Mitarbeiter der Presseabteilung die Aufstellungszettel und darauf standen auf Seiten des FC Bayern sonderbarere Weise nur zehn Namen und keiner davon lautete "Joshua Kimmich".
Tatsächlich? Nein, es handle sich dabei nur um einen Fehler, hieß es entschuldigend. Und wenige Minuten später gab es dann auch schon korrigierte Zettel mit elf Namen, von denen einer "Joshua Kimmich" lautete. Natürlich spielte Kimmich und er spielte mangels Alternativen wie erwartet als Rechtsverteidiger.
Joshua Kimmich: Defensiv unterfordert, offensiv aktiv
Letztmals getan hat er das am 18. Dezember vergangenen Jahres bei einem 3:1-Sieg beim SC Freiburg. Anschließend avancierte er zum zentralen Element im Spiel des FC Bayern. Mit klugen Pässen, lauten Kommandos und unbändigem Siegeswillen führte er seine Mannschaft zum Double aus Meistertitel und DFB-Pokal-Sieg. Ob er es in der Zwischenzeit wohl verlernt hatte, Rechtsverteidiger zu spielen?
Es lief gerade die 4. Minute des Spiels gegen Marseille und da durfte man durchaus berechtigte Sorge haben. Der Ball landete im rechten Seitenaus und als Rechtsverteidiger ist es Kimmichs natürliche Aufgabe, ihn wieder ins Spiel zu werfen. Fast so, als hätte er noch nie in seinem Leben einen Einwurf ausgeführt, warf er den Ball direkt zum Gegner. Ab diesem Zeitpunkt stabilisierte sich Kimmich aber. "Ich bin zufrieden mit ihm", sagte Flick nach dem Spiel. "Jo hat offensiv Impulse gesetzt und seine Seite zugemacht."
Im Defensivspiel wurde Kimmich spätestens ab Serge Gnabrys Treffer zum 1:0 (19.) von einem äußerst ideenlosen und zaghaften Marseille jedoch kaum gefordert. Und so fungierte er eher als risikosuchender Rechtsdruckmacher, denn als absichernder Rechtsverteidiger und leistete sich dabei den einen oder anderen Fehlpass zu viel - was gegen Marseille ungestraft blieb, gegen das deutlich offensivstärkere Chelsea aber gefährlich werden könnte.
Kimmich war gegen Marseille jedenfalls in fast jeden Angriff involviert und das belegt auch sein Aktionsradius-Mittelpunkt in der realtaktischen Aufstellung: Der lag sogar vor denen der beiden zentralen Mittelfeldspielern Thiago und Leon Goretzka.
Hansi Flick lobt Leon Goretzka und Thiago
Bis sich Pavard verletzte, hatte Goretzka im zentralen Mittelfeld noch wunderbar mit Kimmich harmoniert. Gegen Marseille spielte er nun an der Seite von Thiago, der weite Teile der Nach-Corona-Bundesligazeit wegen einer Leistenoperation verpasst hatte und den Klub nach dem Champions-League-Final-Turnier verlassen will. Das Zusammenspiel zwischen den beiden funktionierte zwar nicht überragend, aber mindestens solide.
"Sie haben es sehr, sehr gut gemacht", lobte Flick, benutzte dabei aber womöglich mindestens ein "sehr" zu viel. "Sie haben ihre Positionen sehr, sehr gut gehalten und waren anspielbar, als es eng wurde." Wobei man auch dazusagen muss: Wirklich eng wurde es kaum. Wie bei Kimmich muss man auch die Beurteilung ihrer Leistungen ob des schwachen Gegners mit Vorsicht genießen.
Was Goretzka und Thiago wie die ganze Mannschaft tatsächlich tadellos umsetzte, war das intensive Pressing. Trotz der sengenden Hitze jagten die Spieler des FC Bayern in der gegnerischen Hälfte jeden Ball, Goretzka und Thiago lobte Flick explizit für deren Balleroberungen.
Vor allem Edeltechniker Thiago, dem Flick eine "hervorragende Form" attestierte, tat sich in dieser Hinsicht hervor: Er bestritt die meisten Zweikämpfe aller Spieler des FC Bayern und gewann starke knapp 67 Prozent davon. Auch seine sechs Tacklings waren Bestwert auf Seiten des FC Bayern. Als er in der 13. Minute spektakulär einen Ball abgrätschte, lobte David Alaba lautstark: "Gut so, Thiago!"
Joshua Kimmichs Schreie aus der Spielfeldperipherie
Im engen und leeren Stadion am FC Bayern Campus waren die Kommandos der Spieler noch besser vernehmbar als bei den Geisterspielen in den großen Arenen ohnehin schon. So konnte man sich beispielsweise vergewissern, dass Kimmich seine Rolle als lautstarker Führungsspieler unabhängig von seiner Positionierung auf dem Platz und somit auch in der Spielfeldperipherie ausfüllt. "Weiter, weiter, weiter, Männer!", schrie er Anfang der zweiten Halbzeit.
Wie für alle anderen Spieler, die nicht schon zur Pause ausgewechselt wurden, ging es für Kimmich selbst kurz danach aber nicht mehr weiter. Für ihn ins Spiel kam Alvaro Odriozola, außer Pavard der einzige Rechtsverteidiger im Kader des FC Bayern. Bei seinen wenigen Pflichtspieleinsätzen seit seiner Ankunft im vergangenen Winter von Real Madrid empfahl er sich aber nicht für Auftritte in der entscheidenden Phase der Champions League.
Und auch während seiner halben Stunde gegen Marseille blieb Odriozola eher unauffällig. In Erscheinung trat er eigentlich nur, wenn er von der Seitenauslinie wieder mal mehr oder weniger verzweifelt "Niki!", "Coco!" oder "Javi!" schrie, sobald die ebenfalls eingewechselten Süle, Tolisso oder Martinez im Zentrum am Ball waren und ihn mal wieder übersahen.
Kimmich saß zu diesem Zeitpunkt wenige Meter entfernt auf der Tribüne und durfte sich sicher sein, am kommenden Samstag gegen Chelsea wieder als Rechtsverteidiger auflaufen zu müssen.