Würde Hollywood etwas von Fußball verstehen, müsste es eigentlich einen Film über Hannover 96 drehen. Eine Mannschaft am Ende, blockiert und zerrüttet nach dem Selbstmord ihres Kapitäns, überfordert mit dem sportlichen Absturz.
Ein geschwächter Trainer, den sein monatelanges Scheitern bei der Jobsuche viel Ansehen gekostet hat; der auch in Hannover bloß als Kompromisslösung gilt; der nur mit viel Glück überhaupt den Klassenerhalt schafft; und der nach dem blamablen Pokalaus gegen eine Amateurmannschaft als Topkandidat für die erste Entlassung der Saison gehandelt wird. Vermeintlich ein Verlierertyp.
Ein Verlierer allerdings, so will es das Drehbuch, der in Wahrheit jede Menge Knowhow mitbringt - und nun tatsächlich seine letzte Chance nutzt, das auch zu beweisen: Der verkannte Fachmann bringt es fertig, aus einem desolaten Scherbenhaufen ein perfektes Mosaik zusammenzufügen.
Er haucht der Mannschaft nicht nur neues Leben ein, sondern verpasst ihr auch ein stimmiges Konzept. Die Spieler vertrauen ihm, verwirklichen seine Idee von Tempofußball - und schreiben völlig überraschend Geschichte.
Zum ersten Mal qualifiziert sich Hannover über die Bundesliga für einen europäischen Wettbewerb. Profis, die zuvor schon als gescheitert, als mäßig talentiert oder überhaupt nicht wahrgenommen wurden, sind plötzlich bei internationalen Topvereinen im Gespräch. Und Coach Mirko Slomka geht als ernsthafter Kandidat für den "Trainer des Jahres" in die neue Saison.
Das Gerüst der Mannschaft hat sich nicht verändert. Die einzelnen Teile aber sind gewachsen: jedes für sich selbst und alle zusammen zu einer Einheit. Zum ersten Mal seit Jahren geht Hannover damit nicht als desillusionierte graue Maus in die neue Spielzeit sondern als viel beachteter und selbstbewusster Trendsetter für moderne Kontertaktik.
Und der rehabilitierte Trainer muss nicht erst die Trümmer der Vergangenheit wegräumen, sondern baut auf einem unerwartet soliden Fundament auf. Keiner seiner Leistungsträger hat den Verein verlassen.
Das ist neu
Gleich im ersten Pflichtspiel hat Hannover mit einer Tradition gebrochen und die erste Runde des DFB-Pokals beeindruckend souverän überstanden. Dass dabei kein einziger neuer Spieler in der Startelf stand, zeigt erstens: Die Mannschaft funktioniert nach Slomkas Vorstellungen und ist perfekt eingespielt, einschneidende Veränderungen sind nicht nötig. Und zweitens: Für größere Manöver auf dem Transfermarkt fehlt nach wie vor das Geld.
Die Aufgabe von Sportdirektor Jörg Schmadtke war es also, mit gutem Riecher, aber kleinem Budget den Kader so zu ergänzen, dass er vor allem die ungewohnte Mehrfachbelastung bewerkstelligen kann. Der Hang zu Pokalblamagen erlaubte den 96ern in den letzten Jahren regelmäßig den "Luxus", sich nur auf die Liga zu konzentrieren.
In dieser Saison ist Hannover gleich in drei Wettbewerben vertreten. Das Abenteuer Europa League ist der nachträgliche Lohn für den Coup der vergangenen Spielzeit.
Mit Artur Sobiech (Sturm), Christian Pander (linker Flügel) und Henning Hauger (zentrales Mittelfeld) wurden dafür in erster Linie Ergänzungsspieler verpflichtet, mit denen Slomka gegebenenfalls auf bestimmte Spielsituationen oder den Kräfteverschleiß seines Stammpersonals reagieren kann.
Ob die Substanz im Kader ausreicht, um das laufintensive und taktisch anspruchsvolle Spiel auch in englischen Wochen verlustfrei aufrechtzuerhalten, wird vor allem davon abhängen, ob Hannover weiterhin von größeren Verletzungssorgen verschont bleibt.
Die Taktik
Slomka ist ein Verfechter des 4-4-2 mit einer echten und einer hängenden Spitze. Aus dieser Grundordnung heraus entwickelte er sein Team zu einer hoch präzisen Kontermaschine. Aggressives Mittelfeldpressing, schnelles Umschalten, schnörkelloses und direktes Angriffsspiel: Die wesentlichen Stärken seiner Mannschaft will der Trainer auch in der kommenden Saison ausspielen.
Allerdings erwartet Slomka, dass sich die Gegner besser auf sein Überkommando einstellen, tiefer stehen und Hannover eher den Ball überlassen werden. Deshalb arbeitete er in Vorbereitung gezielt daran, auch "aus der eigenen Dominanz heraus" Torchancen zu kreieren.
In der Vorsaison hatten die Niedersachsen im Durchschnitt deutlich unter 50 Prozent Ballbesitz pro Partie, an Offensivaktionen beteiligten sich in der Regel höchstens vier Spieler. Sollten die Gegner Hannover nun tatsächlich dazu zwingen, das Spiel selbst zu gestalten, müsste vor allem von den Außenverteidigern und aus dem zentralen Mittelfeld mehr Initiative kommen.
Außerdem gewinnen die eigenen Standards an Gewicht - eine Schlüsselkategorie, in der 96 noch Luft nach oben hat. Mit Christian Pander wurde dafür nun ein echter Spezialist geholt.
Der Spieler im Fokus
Hennig Hauger. Nach Didier Ya Konan und Mohamed Abdellaoue ist Schmadtke zum dritten Mal in Folge in Norwegen fündig geworden. Mit 21 Länderspielen bringt Hauger zum einen etwas internationale Erfahrung in den Kader. Zum anderen bietet er Slomka die gewünschte spielerische Option in Mittelfeld.
Mit Hauger könnte Hannover bei Bedarf sogar auf eine Raute im Mittelfeld umstellen. Der 26-Jährige kann hinter den Spitzen die Bälle verteilen und sucht auch selbst immer wieder den Strafraum. Allerdings braucht er wohl noch etwas Zeit, um sich an das geforderte Tempo und das direkte Spiel zu gewöhnen.
Außerdem zeugt seine Quote von acht Toren in 171 Spielen für Stabaek nicht unbedingt von großer Produktivität. Entsprechend ist Hauger fürs Erste als spielstarker Backup auf der Sechs vorgesehen.
In die Startformation drängt dagegen Moritz Stoppelkamp. Der 24-Jährige hat seine chronische Harmlosigkeit offenbar überwunden und ist mit knapp 30 Toren der Gewinner der Vorbereitung. Er kämpft allerdings gegen den ebenfalls formstarken Jan Schlaudraff um einen Platz in der ersten Elf; entweder auf dem rechten Flügel oder als hängende Spitze.
Die Prognose
In Hannover ist es gelungen, eine vernünftige Atmosphäre zu erzeugen, zwischen optimistischer Aufbruchsstimmung und pragmatischem Realitätssinn.Schon während der vergangenen Saison wies Slomka immer wieder darauf hin, dass seine Mannschaft in einigen Situationen auch von glücklichen Umständen profitierte. Dennoch strahlt auch er das berechtigte Selbstvertrauen aus: Platz vier nach 34 Spieltagen ist kein Zufall.
Keinerlei Erfahrungswerte gibt es allerdings für die Frage: Wie reagiert das Team auf die mental und körperlich anstrengenden Ausflüge nach Europa? Hannover wäre nicht die erste Mannschaft, die dabei Federn lässt. Allerdings wirkt der Kader charakterlich geschlossen und spielerisch stabil. Dass er auch Rückschläge verkraften kann, hat er bereits bewiesen.
Insofern scheint das Minimalziel eines gesicherten Mittelfeldplatzes durchaus realistisch. Platz sechs bis neun wäre im "Jahr danach" ein durchaus ordentliches Ergebnis. Probleme könnten allerdings entstehen, wenn sich wichtige Spieler verletzen. Vor allem in der Abwehr ist 96 eher dünn besetzt.
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