Hannover hat eine schwierige Saison 2014/15 hinter sich. Die Vorstellung, mal wieder in den oberen Tabellenregionen mitzumischen und im Idealfall einen internationalen Platz anzugreifen, zerschlug sich in der Rückrunde - auf die wohl ernüchterndste Art und Weise: 16 Spiele blieben die Niedersachsen von Dezember bis Mai sieglos.
Zuvor hatte Coach Tayfun Korkut deshalb bereits abgedankt, in Michael Frontzeck präsentierten Dirk Dufner und Martin Kind zum Saisonende ihren Feuerwehrmann, der die 96er durch acht Punkte in den letzten vier Spielen doch noch zum Klassenerhalt führte.
Während zu Beginn seines Engagements noch keine Rede von einer Anstellung über das Saisonende hinaus war, haben sich die Verantwortlichen in Hannover entschieden, mit Frontzeck auch in die neue Saison zu gehen.
Die muss - gemessen an Kinds Forderungen - deutlich erfolgreicher verlaufen. Auch 2015/16 steht der Trainer somit gleich von Beginn an unter Druck. Sollte Hannovers Tendenz nicht schon in den ersten Wochen nach oben zeigen, ist Kind zuzutrauen, dass er erneut reagiert.
So wie im Fall Dufner: Der Sportdirektor erklärte jüngst seinen Abschied - zum 31. August. Auch wenn die Trennung offiziell auf Wunsch Dufners hin geschah, war über eine Ablösung des Sportdirektors schon in der vergangenen Saison spekuliert worden. Wirklichen Rückhalt schien Dufner in Hannover nicht zu spüren. Dennoch: Transfers und Kaderzusammenstellung fielen auch in dieser Wechselperiode noch in seinen Aufgabenbereich. Hinterlässt er ein Team, das den Ansprüchen gerecht wird?
Das ist neu:
Gefühlt die komplette Offensive. Mit Lars Stindl, der 96-Identifikationsfigur schlechthin, hat das Rückgrat der letzten Jahre Hannover verlassen. Auch die Abgänge von Joselu, Jimmy Briand und Leonardo Bittencourt wiegen schwer, sodass Dufner und Frontzeck in der Sommerpause gezwungen waren, zu handeln.
Speziell der Verlust Stindls ist für 96 nur sehr schwer zu kompensieren. Zwar hat sich der Verein durch die Transfers von Felix Klaus, Uffe Bech, Charlison Benschop, Allan Saint-Maximin und Mevlüt Erdinc in der Breite qualitativ gut aufgestellt, jedoch wird es mannschaftsintern sicher noch eine Zeit lang dauern, bis Stindls Führungsqualitäten neu verteilt sind.
Trotz alledem kann sich der Wechsel des Starspielers für die Niedersachsen auch als Fortschritt entpuppen. Denn in der jüngeren Vergangenheit lasteten viele Hoffnungen ausschließlich auf dem Neu-Gladbacher - das Team stand oftmals im Schatten. Die neue Konstellation erfordert dagegen mehr Verantwortung des Kollektivs - und damit von jedem Einzelnen.
Die Mischung aus erfahrenen Spielern wie Schulz, Andreasen und Zieler sowie den aufstrebenden Youngstern Klaus, Saint-Maximin oder Karaman stellt eine gute Verteilung innerhalb der Mannschaft dar: Neue Impulse auf der einen Seite, bewährte Inhalte auf der anderen.
Doch nicht nur in der Offensive, wo sich Erdinc, Sobiech und Benschop (zuletzt 13 Tore in der 2. Liga) um die Sturmspitze streiten, hat sich 96 verstärkt. Auch defensiv ist auf der Außenbahn mit Oliver Sorg ein Anwärter für die Startelf hinzugekommen.
Die Taktik:
"Grundgedanke bleibt das 4-2-3-1, aber auch ein 4-4-2 mit zwei Spitzen ist möglich", sagte Frontzeck zuletzt offen im kicker. Zu Beginn der Saison stehen dem Trainer auch wieder fast alle Akteure zur Verfügung - unter anderem Neuzugang Benschop und Abwehrspieler Marcelo, die im Pokal beide aufgrund von Altlasten aus der vergangenen Saison noch gesperrt waren. Das führt aber auch dazu, dass sich die Konkurrenz auf den jeweiligen Positionen einen kleinen Vorteil verschafft.
In der Abwehr ist daher wahrscheinlich, dass sich Felipe erst einmal im Positionsduell mit Marcelo durchsetzt. Schulz ist mit dem Kapitänsamt vorerst gesetzt, ist aber auch nicht unantastbar. Durch die Verpflichtung von Oliver Sorg, der sowohl rechts als auch links spielen kann, wurde der Konkurrenzkampf auf den defensiven Außenbahnen angekurbelt. Aufgrund eines Muskelfaserrisses in der Vorbereitung muss er sich aber womöglich erst wieder an die Startelf herankämpfen.
Während auf der Doppelsechs Sane gesetzt ist, liefern sich Schmiedebach und Andreasen wohl den Kampf um den zweiten Platz im Zentrum. Davor soll Kiyotake, der sich nach langer Verletzungspause wieder vollständig kuriert hat, den neuen Stindl geben. Mit Karaman hat er aber einen hoffnungsvollen Nachwuchsmann im Nacken, der seine Chance in der Sommerpause nutzte.
Am interessantesten ist in Hannover der Konkurrenzkampf in der Spitze und auf den offensiven Außenbahnen. Ziel ist es, durch die Integration der Neuzugänge wieder mehr Zug in Richtung Tor zu entwickeln und vorne mindestens einen Stürmer aufzubieten, der endlich wieder Durchschlagskraft verkörpert. Je nach Gegner und Trainingsform ist eine Doppelspitze denkbar, das Trio streitet sich zunächst aber um den alleinigen Platz im Sturm.
Der Spieler im Fokus:
Mevlüt Erdinc. Schon die Verpflichtung von Charlison Benschop zeigte, wo bei 96 der Schuh drückt. Der Transfer von Erdinc war aus Hannoveraner Sicht aber der Coup der Sommerpause und hat - was das Personal betrifft - für Ruhe gesorgt. Denn der Sturm wurde - neben dem verletzungsanfälligen Sobiech und der Wundertüte Benschop - mit einem vielversprechenden Allrounder upgedatet.
Wenngleich Erdinc in der Bundesliga noch unbekannt ist, steigert der 28-jährige Türke Frontzecks Hoffnung, insgesamt deutlich mehr Tore zu erzielen als die 40, die 96 in der letzten Saison zustande brachte. Zwischen drei und vier Millionen Euro hat der Stürmer den Verein wohl gekostet.
"Mevlüt Erdinc hat in den vergangenen Jahren seine Torgefährlichkeit immer unter Beweis gestellt. Als Stürmer hat er vielfältige Qualitäten: Abgeklärt im Abschluss, durchsetzungsstark im Zweikampf, sehr präsent im gegnerischen Strafraum. Ich bin davon überzeugt, dass er unsere Mannschaft verstärken wird", erklärte Frontzeck.
In 256 Spielen in der Ligue 1 war er für den AS St. Etienne, Stade Rennes, Paris Saint-Germain und den FC Sochaux an über 110 Toren beteiligt. In der vergangenen Saison kam er in 26 Einsätzen auf acht Treffer. Hannover hofft, dass die Akklimatisierung nicht zu lange dauert und Erdinc seine Torquote in Niedersachsen weiter nach oben schraubt.
Mevlüt Erdinc' Statistiken in der Ligue-1-Saison 2014/15
Die Prognose:
Gelingt Frontzeck die schnelle Eingliederung der Neuen, könnte 96 tatsächlich wieder mit frischem Offensivfußball überzeugen - trotz des vermeintlichen Qualitätsverlusts.
Dennoch ist es aufgrund zahlreicher Abgänge und dem anstehenden Umbruch auf dem Sportdirektorposten vermessen, von Europa zu sprechen.
Das Hauptziel wird sein, Ausflüge in den Tabellenkeller von Beginn an zu vermeiden und die Gunst der Fans wieder zurückzugewinnen. Das geht in erster Linie über Erfolg - hängt aber auch in großem Maße von der gelebten und transportierten Emotion des Teams ab.
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