Mit dem Ende beginnen

Von Adrian Franke
Bayer Leverkusens Mannschaft in der Saison 2015/2016
© getty

Vor dem Start der 53. Bundesliga-Saison stellt SPOX alle 18 Klubs vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: Bayer 04 Leverkusen.

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Wer eine Mannschaft sehen will, die im Laufe eines Jahres wächst, darf sich getrost die Vorsaison der Leverkusener Werkself zu Gemüte führen. Bayer holte in der Rückrunde zwar nur fünf Punkte mehr als in der Hinserie, vor allem aber im letzten Saisondrittel verbesserte sich die Defensive merklich und verhalf Leverkusen zu einem Lauf von zwischenzeitlich fünf Siegen in Folge ohne Gegentreffer.

Trainer Roger Schmidt bewies in seinem ersten Jahr in Leverkusen respektable Anpassungsfähigkeiten, die Mannschaft zeigte große Fortschritte und hatte Atletico Madrid im Achtelfinale der Champions League am Rande des Ausscheidens.

Dennoch reichten nach den durchwachsenen ersten beiden Saisondritteln neun Siege aus den letzten zwölf Spielen nicht für den direkten Champions-League-Platz - und so steht Bayer zum Bundesliga-Start eine englische Woche bevor. Mit Lazio Rom wartet früh in der Saison eine harte Nuss in der Quali. Dabei muss das Team schnell beweisen, dass es die Abgänge der Leader Gonzalo Castro und Simon Rolfes auffangen kann.

Das ist neu:

Neben Castro und Rolfes hat Leverkusen mit Stefan Reinartz einen weiteren langjährigen Bayer-Profi verloren. Es sind Abgänge, die sich auch auf das Mannschaftsgefüge auswirken. Lars Bender wurde zum Kapitän befördert und soll intern eine noch prominentere Rolle einnehmen.

Auf dem Transfermarkt hat sich Bayer gezielt verstärkt: Abwehrtalent Jonathan Tah kam nach langem Hin und Her vom Hamburger SV, Kyriakos Papadopoulos (Schalke) wurde nach abgelaufener Leihe fest verpflichtet. Insgesamt 14 Millionen Euro kosteten die beiden Innenverteidiger, Routinier und Stabilisator Emir Spahic hatte infolge des Prügel-Eklats schon vor Saisonende seinen Hut nehmen müssen.

Auch im Mittelfeld legte man den Fokus auf die taktischen Anforderungen: Das Zentrum wurde gestärkt. So kam Christoph Kramer aus Gladbach zurück, zu Wochenbeginn einigte man sich zudem auch mit Wunschspieler Charles Aranguiz. Die beiden extrem laufstarken Mittelfeldspieler sollen die Zentrale gemeinsam mit Bender stärken.

Zumindest vorerst hat Kramer die Nase vorn, da Aranguiz zunächst aufgrund der verpassten Saisonvorbereitung aufholen muss. Beide werden aber im Laufe der Saison auf ihre Einsätze kommen, genauso wie der aus Salzburg verpflichtete Defensivspieler Andre Ramalho.

Offensiv gab es vor allem einen simplen Wechsel: Der zweite Stürmer neben Urgestein Stefan Kießling wurde ausgetauscht, statt Josip Drmic (zu Borussia Mönchengladbach) soll Admir Mehmedi (Freiburg) Kießling künftig entlasten. Mehmedi ist die spielstärkere Option und könnte sich im 4-2-3-1 mit der variablen Dreierreihe im Rücken sogar als bessere Alternative erweisen.

Die Taktik:

Balance und Stabilität sind in taktischer Hinsicht die Leverkusener Schlagworte. Schmidt musste erkennen, dass sein extremes Pressing- und Umschaltspiel teilweise zu komplett wilden Partien führte (stellvertretend dafür seien das 3:3 gegen Stuttgart und das 4:5 gegen Wolfsburg genannt) und in der Bundesliga nicht ohne weiteres funktionierte.

So agierte Bayer zunehmend ausgewogener, acht der neun Siege im Liga-Schlussspurt erfolgten ohne Gegentreffer. Für Leverkusen geht es primär darum, ans letzte Saisondrittel anzuknüpfen und Schmidts Fußball weiter zu entwickeln - aber auch zu verändern. Weg vom Pressing um jeden Preis, hin zu einer gesunden Mischung.

Unverändert ist, dass die Philosophie des 48-Jährigen mit aktivem Gegenpressing und extremem Verschieben in Richtung Ball physisch höchste Ansprüche an die eigenen Spieler stellt. Im Gespräch mit 11Freunde erklärte Schmidt vor einigen Wochen: "Unsere Grundordnung gleicht mitunter einem 4-2-4, wobei Kießling und Calhanoglu unsere beiden zentralen Spitzen sind. Flügelspieler wie Son und Bellarabi oder Brandt sind eher Zehner auf den Halbpositionen."

Diese attackieren "oft in vorderster Linie, wodurch sich hinter ihnen natürlich große Räume ergeben. Genau die müssen unsere Außenverteidiger beherrschen, hinter denen sich wiederum Räume öffnen. Wir kontrollieren sie, indem unsere komplette Viererkette durchsichert." Auch wenn das Pressing nicht mehr so aggressiv und hoch stattfindet wie noch in der Hinrunde, so geht es doch weiter darum, schnell extrem kompakt zu stehen, das Spielfeld eng zu machen und daraus fließend in den Konter überzugehen.

Das verlangt Zweikampf- sowie Spielstärke im Zentrum und erklärt die Leverkusener Einkaufspolitik des Sommers. Zwar passten die Balleroberungen schon in der vergangenen Saison, Bayer gehörte hier statistisch zu den stärksten Teams.

Doch die Passquote von nur 69,9 Prozent war der drittschwächste Wert der Bundesliga und zeigt den oft riskanten Spielaufbau. Schmidt will schlicht "perfekt spielen. Was herauskommt, kann ich nicht sagen."

Der Spieler im Fokus:

Jonathan Tah. Das Abwehrtalent war in der vergangenen Saison vom HSV an Fortuna Düsseldorf ausgeliehen und kommt mit der Vorjahres-Empfehlung von 23 Zweitliga-Spielen zurück an den Rhein - dennoch kostete er stolze 7,5 Millionen Euro.

Von einem "überaus talentierten Innenverteidiger" sprach Völler nach der Verpflichtung und fügte hinzu: "Seine Verpflichtung ist eine tolle Investition in die Zukunft, aber Jonathan hat auch die Klasse, uns sofort weiterzuhelfen."

Letzteres ist längst der Fall, denn da Ömer Toprak durch seinen Sehnenriss wohl bis Jahresende zum Zuschauen gezwungen ist, muss Tah im taktisch anspruchsvollen Leverkusener System von Beginn an im Abwehrzentrum ran. "Wir bewegen uns auf sehr dünnem Eis", gab Schmidt mit Blick auf seine Innenverteidigung zu.

Für Tah auf der anderen Seite ist es die große Chance, sich festzuspielen und sich für höhere Aufgaben zu empfehlen. Genau diese Gelegenheit hatte er beim HSV vermisst, als er in die 2. Liga ausgeliehen wurde - jetzt darf er seine Klasse zeigen.

Jonathan Tahs Statistiken der Saison 2014/15

Das Interview:

SPOX: Roger Schmidt und Jürgen Klopp sind sich fußballphilosophisch sehr nahe. Finden Sie, dass das intensive Balljagen und extreme Pressing, das Bayer spielt, noch einmal eine Stufe über der Messlatte steht, die Dortmund in den Jahren 2010 bis 2013 gelegt hat?

Oliver Bartlett: Wenn ich das Training vergleiche, würde ich sagen, dass Roger Schmidts Fußball noch choreographierter, ballorientierter und somit extremer ist. Ich gebe zu, dass ich zu meiner Anfangszeit in Dortmund noch weniger Einsicht in das hatte, was vom Fußballerischen alles dahinter steckt. Wenn ich jetzt aber andere Fußballspiele anschaue, erscheinen mir andere Herangehensweisen teilweise viel zu langsam. In gewissen Szenen frage ich mich zuweilen, weshalb der Spieler jetzt nicht attackiert wird. Das vergleiche ich dann intuitiv mit dem Fußball, den wir zurzeit in Leverkusen spielen wollen.

Athletiktrainer Oliver Bartlett im Interview: "Klopp? Schmidts Fußball ist extremer"

Die Prognose:

Leverkusen ist auch in dieser Saison fester Bestandteil im Kreis der Bayern-Jäger - und im Gegensatz zu Gladbach und Wolfsburg kennt die Werkself die psychische sowie physische Doppelbelastung durch die Champions League. Allerdings muss sich Bayer über Lazio zunächst selbst für die Königsklasse qualifizieren, was der Mannschaft im Erfolgsfall einen weiteren Motivationsschub geben würde.

Im Gespräch mit der Rheinischen Post erklärte Schmidt am Samstag: "Ich wünsche mir, dass wir mit dieser Mannschaft mal in die Nähe kommen, um Titel zu gewinnen. Davon sollte man auch träumen, aber auch wissen, dass dafür viel zusammenkommen und kontinuierlich gearbeitet werden muss. Ich glaube: Wir sind auf dem Weg dorthin. Wir haben eine Mannschaft, in der die einzelnen Spieler viel Potenzial haben. Viele sind aber noch brutal jung. Da hilft es nichts, Druck auf sie aufzubauen."

Vom Titel ist die Werkself tatsächlich noch ein Stück entfernt. Doch: Schmidts System wird weiter verfeinert und die Mannschaft wurde sinnvoll verstärkt. Wenn Bayer da beginnt, wo die Vorsaison endete, landet man am Ende auf einem direkten Champions-League-Platz.

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