Irgendwie kam ihm sehr vieles bekannt vor. Die Gesichter. Die Fragen. "Wie, seid ihr das wirklich?", fragte Leonardo bei seiner Präsentation als Inter-Coach Anfang Januar lächelnd in die Runde. Die Mailänder Journalisten fühlten sich ebenfalls wohl, "Schön, dass du wieder da bist" war in ihren Gesichtern zu lesen. Nach 13 Jahren bei Milan, als Spieler, Manager und Trainer, kennt man sich eben.
Der Aufschrei in Mailand war riesig, als der Rossonero zum Nerazzurro wurde. Besonders auf Milan-Seite, wo der Brasilianer schnell den Verräter-Stempel weghatte. "Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn das eintrifft", hatte Milan-Geschäftsführer Adriano Galliani noch im Dezember gesagt, als das Leonardo-Inter-Gerücht erstmals auftrat. An Heiligabend konnte er sich dann konkret damit auseinandersetzen. Da gab Inter die Verpflichtung des 41-Jährigen bekannt.
Heute, knapp zwei Monate später, fühlen sich die Milanisti weiter unwohl - allerdings nicht mehr aus sentimentalen, sondern aus sportlichen Gründen. 13 Punkte lag Inter bei Leonardos Vorstellung hinter den Rossoneri - viel Holz, trotz zweier Nachholspiele in der Hinterhand. Heute sind es fünf. Inter ist wieder da - und zwar wegen Leonardo.
Thiago Motta: Leo weiß, wie er uns anzupacken hat
Der Brasilianer hat das Vertrauen in die eigenen Mittel und großen Enthusiasmus in die Pinetina, Inters Trainingszentrum nordwestlich von Mailand, zurückgebracht. "Die Begeisterung ist riesig, das gefällt mir", sagt Präsident Massimo Moratti.
Die Spieler lieben die Art und Weise, wie der Brasilianer mit ihnen umgeht. "Er hat uns die Freude zurückgebracht. Leo ist komplett anders als alle Trainer, die ich hatte", erzählte Thiago Motta der "Stampa". "Er weiß, wie wir zu führen sind. Wenn er sieht, dass wir müde sind, hat er kein Problem damit, uns einen Tag Ruhe zu verordnen."
Thiago Motta im Porträt: Der Spätberufene
Leonardo ist nah an den Spielern, aber doch kein klassischer Kumpeltyp. Er ist ein großer Motivator, und doch kein Jürgen Klinsmann. Leo ist ein Gentleman, voller Leidenschaft für das Spiel - als Spieler und jetzt als Trainer.
Seine Freude hat sich eins zu eins auf den Rasen übertragen. Die Spielfreude in den Interspielen ist zurück. Leonardo will sein Team direkt und mit wenigen Ballberührungen spielen sehen. Und zwar nach vorne. Immer nach vorn. "Meine Idee vom Fußball ist vom Offensivspiel geprägt. Mein Inter soll schön spielen", beschreibt er seine Philosophie.
Leonardo: Pilot, kein Verkehrspolizist
Nach Jose Mourinho nichts weniger als ein fußballphilosophischer Quantensprung. Oder eben eine Revolution, die "Leorevolution", wie Italiens Sportpresse die Wandlung der Nerazzurri in den vergangenen Wochen bezeichnete. "In einem Monat hat sich quasi alles verändert. Im Herbst war Inter eine traurige und erloschene Mannschaft, ein ergrautes und melancholisches Team", schrieb die "Repubblica". "Mit Leonardo ist der Knoten geplatzt, Inter ist jetzt eine Champagnerstil-Mannschaft."
Die Spieler bestätigen das - immer und immer wieder. "Seit Leo da ist, haben wir den richtigen Weg eingeschlagen", frohlockt Julio Cesar. "Wir sind alle motivierter", schickt Maicon hinterher. Vergessen sind die blassen Vorstellungen unter Rafael Benitez.
"Uns hat in den letzten Jahren immer unser Spirit ausgezeichnet. Dieser Geist ist jetzt wieder da. Leo hat uns das Lächeln und die Spielfreude zurückgebracht", sagte Marco Materazzi - und gab Benitez ordentlich eine mit: "Benitez? Ich möchte über denjenigen reden, der uns das Lächeln gebracht hat, nicht über den, der es uns weggenommen hat. Inter ist ein Formel-1-Wagen. Um ihn zu steuern, braucht es einen Piloten, keinen Verkehrspolizisten."
Leidenschaft, Motivationsstärke und Menschenkenntnis
Zu Benitez' Verteidigung sei allerdings gesagt, dass sich der Spanier mit sehr vielen Verletzten herumschlagen musste und auf so gut wie keine Neuzugänge zurückgreifen konnte. Anders Leonardo, der im Januar mit Giampaolo Pazzini, Andrea Ranocchia, Houssine Kharja und Yuto Nagatomo gleich vier Neue begrüßen konnte.
Aufgrund seiner Manager-Vergangenheit bei Milan bringt Leonardo zusätzliche Qualitäten ins Inter-Team. Der Brasilianer ist ein profunder Kenner des Fußballs unterm Zuckerhut, nicht umsonst hat er den Rossoneri das Trio Pato, Thiago Silva und Kaka signalisiert und an ihren Transfers nach Mailand mitgearbeitet. Leo ist eng mit Ronalo und Ronaldinho befreundet, hat aber auch die jungen Brasilianer im Auge. So wie Spielmacher-Talent Ganso, neben Neymar Brasiliens nächster potenzieller Superstar. Halb Europa ist an ihm dran, Milan und Inter buhlen öffentlich um ihn.
Dazu kommt Leonardos Leidenschaft für den Fußball. In Florenz musste Co-Trainer Giuseppe Baresi zur Pressekonferenz, Leo war schlicht und einfach vom vielen Schreien während der Partie die Stimme ausgegangen.
Leonardo hat der Mannschaft aber vor allen Dingen eines zurückgebracht: den Glauben an sich selbst. Nach der 0:1-Niederlage in Turin betonte er: "Vergesst nicht: Inter ist das beste Team der Welt. Wir stehen auf dem Fußball-Gipfel, da gibt es nichts zu beweinen."
Diese Selbstüberzeugung gepaart mit seiner Motivationsstärke und Menschenkenntnis hat Inter in den letzten Wochen wieder auf Kurs gebracht.
Leo: Ich werde nicht mein ganzes Leben hier sein
Doch der nette Herr Leonardo kann auch anders. Das bewies er nach der Niederlage gegen Juve eindrucksvoll. Inter bekäme zu viele Tore und ließe zu viel zu, bemängelten die Journalisten. Außerdem habe die Einstellung nicht gestimmt.
So läuft es in Italien, wenn du gewinnst, bist du der Held. Verlierst du aber, und sei es nur ein Spiel, wird es schnell ungemütlich. Das Ergebnis steht über allem.
Doch Leo machte klar, dieses Spiel nicht mitzuspielen: "Wer sich für mich entscheidet, kennt meine Ideen: Ich stehe für schönen und offensiven Fußball und werde mich nicht ändern. Halb so wild, wenn ich es nicht schaffe, meine Ideen durchzusetzen. Ich werde nicht mein ganzes Leben hier sein."
Die Pressevertreter staunten nicht schlecht, doch der Brasilianer war noch nicht fertig. "Ich werde mich nicht an diesen dramatisch angehauchten Diskussionen beteiligen. Italien ist die Heimat der Taktik, was sehr schön und auch gut ist. Aber die Liebe zum Fußball entsteht durch die Tore." Sprach's und ging.
Inter-Coach Leonardo im Steckbrief