Philipp Lahm war die Situation nicht ganz geheuer. Er hatte schon viele Pressekonferenzen abgehalten, auch nach Niederlagen, doch diesmal fühlte er sich irgendwie fehl am Platz. Auf dem Podium des Pressesaals im Basler St. Jakobs-Parks stand eine silberne, kelchartige Trophäe direkt neben ihm.
Ein dänischer Bierbrauer hatte das weitgehend geschmacklos designte Ungetüm gestiftet als Auszeichnung für den Spieler des Spiels. Lahm hatte soeben das 3:2-Siegtor für die deutsche Nationalmannschaft im EM-Halbfinale 2008 gegen die Türkei geschossen und damit die Jury entzückt und überzeugt, dass nur er der "Man of the Match" sein konnte.
Dabei hatte Deutschlands Linksverteidiger eine seiner schwächsten Turnierleistungen abgeliefert und sogar die beiden Gegentore mitverschuldet. "Es gab hier sicher andere Spiele, in denen ich diese Auszeichnung mehr verdient gehabt hätte", sagte Lahm und verfrachtete seine Trophäe umgehend auf den Boden. Eine im ersten Moment brüskierend wirkende Reaktion. Dabei handelte Lahm nur seinem Charakter entsprechend bescheiden.
Sturkopf und Disziplin-Fanatiker
Lahm wuchs in einem Mehrfamilienhaus mit Eltern und Großeltern im Münchner Stadtteil Gern auf. Er hat früh gelernt, Demut zu wahren. Weil er als Grundschüler mehrere schlechte Noten mit nach Hause brachte, brummte ihm seine Mutter drei Tage Hausarrest auf.
Der "Fußball-Junkie Lahm, der schon im Mutterleib Fußball gespielt hat" (Jugend-Trainer Hermann Gerland), dribbelte und grätschte sich durch Küche und Wohnzimmer. Nach nur einem Tag hatte seine Mutter genug: "Morgen gehst du wieder raus." Lahm weigerte sich, er beharrte darauf, die drei Tage Stubenarrest abzusitzen, schließlich habe er in der Schule Mist gebaut. Lahm, der Sturkopf. Lahm, der Disziplin-Fanatiker.
Demut, Disziplin und Konsequenz, gepaart mit enormem Ehrgeiz, haben Lahm zum wichtigsten Botschafter des deutschen Fußballs werden lassen. Mit 27 Jahren ist er Kapitän des FC Bayern München und der Nationalmannschaft.
Er kommt der Idealvorstellung jedes Trainers nahe. Lahm ist kein Hierarch, eher der Erste unter Gleichen. Er wählt seine Worte bewusst und vermeidet gekonnt emotional beeinflusste Statements. Der "Spiegel" nannte ihn wegen seiner Kunst zur Diplomatie einmal den "DFB-Genscher", in Anlehnung an den ehemaligen Außenminister.
"Werde immer meine Meinung sagen"
Nur wenn er seine Ziele gefährdet sieht, spricht er Dinge kritisch an, auch auf die Gefahr hin, anzuecken. Sein selbst lanciertes Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", in dem er im November 2009 die Philosophie des FC Bayern bemängelte, hat ihm intern viel Ärger eingebracht. Lahm würde es wieder tun. "Ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch und will immer hundertprozentigen Erfolg. Wenn ich merke, dass die Dinge in eine falsche Richtung laufen, werde ich immer meine Meinung sagen."
Lahm gehört zum seltenen Spielertyp, dessen Horizont nicht an der Torlinie endet. Seit Jahren engagiert er sich mit seiner eigenen Stiftung gegen Aids und initiiert mittlerweile auch Projekte für Aufklärung und Prävention in Südafrika. 2008 wurde er mit dem Tolerantia-Preis ausgezeichnet für seinen "herausragenden Einsatz gegen Intoleranz und Homophobie im Breitensport, hier insbesondere im Fußballsport".
In seinem Sommercamp versammelt er jedes Jahr 160 Kinder, die "ein wenig Abenteuerlust mitbringen, um sich selbst und die Welt zu entdecken." Der Fußball spielt dort nicht die Hauptrolle. "Wenn ich in lachende Kindergesichter blicke, geht mir das nahe. Das kann ich aber nur machen, weil ich erfolgreich Fußball spiele. Dadurch kriege ich die Aufmerksamkeit, die ich brauche, um solche Projekte zu unterstützen", sagte Lahm in einem Interview mit der "Zeit".
Noch kein internationaler Titel
Erfolgreich Fußball zu spielen, bedeutet für Lahm in erster Linie Titel zu gewinnen. National hat er viel erreicht, doch der internationale Titel fehlt ihm nach wie vor. Lahm stand in zwei WM-Halbfinals, einem EM- und einem Champions-League-Finale. Seine Karriere sieht er aber nur als vollkommen an, wenn er den großen Wurf landet.
Mehrfach schlug Lahm ein Angebot des FC Barcelona aus. Seinen Vertrag bei Bayern hat er im November 2010 bis 2016 verlängert, weil er spürte, dass "beim FC Bayern etwas Großes entsteht. Und da will ich dabei sein."
Doch nicht nur der Verein macht eine schwierige Phase durch. Auch Lahm hat erstmals in seiner Karriere mit anhaltenden Leistungsschwankungen zu kämpfen. Im Fachmagazin "kicker" sank sein Notendurchschnitt in der Bundesliga von 2,88 (Saison 2008/09) über 3,08 (Saison 2009/10) auf derzeit 3,38.
Seine Zweikampfwerte haben nachgelassen (von 79 auf 71 Prozent), seine Fehlpassquote ist ungewöhnlich hoch. Der "SZ" sagte Lahm im Herbst 2010, dass er sich so kaputt wie noch nie in seiner Karriere fühle. Körperlich sei er auf der Höhe, aber mental in einem tiefen Loch.
Schweres Van-Bommel-Erbe
Zudem hat er als Nachfolger von Mark van Bommel in München nicht nur die Binde geerbt, sondern sich auch die Probleme aufgeladen, die den FC Bayern in dieser Saison begleiten. Als Kapitän wird von ihm erwartet, dass er den Kopf aus dem Fenster streckt, wenn der Wind von vorne kommt.
Davon war auf dem Platz zuletzt wenig zu sehen. Die Schmach in Hannover ließ Lahm über sich ergehen, dabei hätten die kopflosen Bayern eine führende Hand dringend gebraucht. Als Scharnier zwischen Mannschaft und Trainer ist er die ideale Besetzung, als hauptverantwortliche Führungsperson auf dem Platz hat er Nachholbedarf.
Das Ende der Saison bedeutet eine Zäsur beim FC Bayern. Auch für Philipp Lahm. Mit Trainer Louis van Gaal verliert er seine derzeit wichtigste Bezugsperson im Verein. Wie Bastian Schweinsteiger hat Lahm seine persönliche Zukunft in München an die des Trainers geknüpft.
"Es ist kein Geheimnis, dass ich mich mit dem Trainer sehr gut verstehe. So akribisch wie unter van Gaal wurde bei Bayern noch nie gearbeitet. Das ist mit das Beste, was ich je erlebt habe", sagte Lahm nach seiner Vertragsunterzeichnung.
Lahm glaubte an die von van Gaal ausgerufene Vision einer goldenen Ära. Jetzt muss er sich neu orientieren. Keine einfache Situation. Der Kopfmensch Lahm wird seine rationalen Schlüsse daraus ziehen. Wenn es sein muss, mit allen Konsequenzen.
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