"Wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank"

Carsten Germann
12. September 201114:12
Liam Becket (unten rechts knieend, mit Vollbart) und die Crusaders kassierten in Bukarest ein 0:11Johnston Press
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Die Kreuzritter tauchten am Nachmittag in Bukarest auf - und holten sich eine historische Tracht Prügel ab. Im Oktober 1973 verlor der nordirische Meister FC Crusaders Belfast beim rumänischen Titelträger Dinamo Bukarest im Europacup der Landesmeister mit 0:11. Wenn Liam Beckett (60) an diesen ominösen Oktoberabend denkt, plagen den ehemaligen Mittelfeldspieler aus Nordirland auch nach fast 40 Jahren noch Albträume. Mit den Crusaders schrieb Beckett in der "Albtraumnacht in Bukarest" (uefa.com) ein trauriges Kapitel Europacup-Geschichte. Es ist die bis heute höchste Europapokal-Schlappe, die je ein Team einstecken musste.

"Wahrscheinlich", mutmaßt Liam Beckett rückblickend mit einem Zwinkern, "fühlten wir uns nach dem Hinspiel zu sicher." Die erste Partie im Windsor Park von Belfast hatten die Nordiren nur 0:1 verloren. In Bukarest ging aber alles ganz schnell. Schon zur Pause hieß es 0:4 aus Sicht der Crusaders, ehe es danach zweistellig wurde. Rumäniens Klassestürmer Dudu Georgescu und Mittelfeldspieler Radu Nunweiler trafen beim Kreuzritter-Bashing jeweils vier Mal für Dinamo. Treffer von Florea Dumitrache und Constantin Dinu sowie ein Eigentor von Liam Beckett sorgten für das geschichtsträchtige 0:11.

Schalkes Euro-League-Gegner HJK Helsinki kam im Juli 2011 in der Champions-League-Qualifikation gegen die Waliser von Bangor City mit einem 10:0 dieser Bestmarke gefährlich nahe. Aber besser schlafen kann Liam Beckett deshalb nicht. Der damals 22-Jährige bleibt dabei: "Bukarest wird wohl für immer die unwirklichste Nacht meines Lebens bleiben." Sie machte Beckett und die Crusaders zu unvergessenen Anti-Helden. Nicht nur in Nordirland.

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Liam Beckett versuchte sich auch als TrainerJohnston PressIm Interview mit SPOX spricht Beckett über die Klatsche von Bukarest, einen Affen auf seinem Rücken, die Beatles, wilde Zeiten in Belfast und sein Idol George Best.

SPOX: Mister Beckett, woran denken Sie, wenn Sie den Namen Dinamo Bukarest hören?

Liam Beckett: Ich zittere immer noch. (lacht) Im Oktober 1973 sind wir als gutes Team aus Nordirland nach Rumänien gefahren. Das dachten wir zumindest, aber wir waren für Europa überhaupt nicht bereit, waren viel zu unerfahren. Wir waren wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank. Auch wenn es eigenartig klingt: Wir waren trotz des 0:11 besser, als es das Ergebnis aussagt. Wir haben versucht, anzugreifen, standen aber viel zu offen und Dinamo hat das voll ausgenutzt.

SPOX: Es soll also keiner sagen, Sie hätten sich nicht gewehrt...

Beckett: Das haben wir zumindest versucht. (lacht) Unser Trainer Billy Johnston hat uns vor dem Spiel gesagt, dass wir den Ball halten sollen. Aber den haben wir immer nur beim Anstoß gesehen. Spaß beiseite: Ich habe mit den Crusaders und später mit dem FC Coleraine oft im Europacup gespielt und wir hatten in den späten Siebzigerjahren wesentlich erfolgreichere Tage als diesen. Damals gab es im Meistercup noch keine Qualifikationsrunden und das war ein Vorteil.

SPOX: Aber Bukarest bleibt unerreicht.

Beckett: Ja, auch wenn wir zwei Jahre später mit dem FC Coleraine (als nordirischer Pokalsieger, die Red.) gegen Eintracht Frankfurt gespielt und in der Addition 3:11 verloren haben. Das war hart. Dafür haben wir 1977 bei Lokomotive Leipzig ein 2:2 erzielt.

SPOX: Klingt nach einem guten Ergebnis.

Beckett: Exakt. Die Leipzig-Fans rissen vor Wut die Sitzbänke heraus und feuerten sie auf den Rasen. Das war ihre Art des Protests. In Erinnerung ist mir aber auch die Anreise geblieben. Wir flogen zunächst nach West-Berlin. Man brachte uns dann zum berühmten Checkpoint Charlie und dann mit dem alten Mannschaftsbus von Lokomotive Leipzig zum Stadion.

SPOX: Zurück ins Jahr 2011. Haben Sie sich im Juli gewünscht, dass HJK Helsinki den Stempel der höchsten Europacup-Pleite an Bangor City weiterreicht?

Beckett: Das hätte ich mir in der Tat gewünscht. (lacht) Auf diesen Rekord bin ich nicht besonders stolz, obwohl wir von einer extrem starken Mannschaft überrollt wurden. In Nordirland gab es damals politische Unruhen und die Fans in Rumänien nahmen darauf Rücksicht. Ich habe diese Nacht angesichts der großartigen Gastfreundschaft genossen - aber natürlich nicht wegen des Ergebnisses. Und im Juli dachte ich mir beim Blick auf die Champions-League-Qualifikationsspiele: Hätte Helsinki nicht noch ein Tor mehr schießen können? Dann wäre ich endlich diesen Affen losgeworden, der mir seit Bukarest auf dem Rücken sitzt.

SPOX: Was werden Sie tun, wenn der Rekord eines Tages tatsächlich gebrochen wird?

Beckett: Ich werde den Trainer des Siegerteams anrufen und ihn nach Belfast auf ein Glas Guinness einladen. (lacht) Ehrlich, ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn ich diese Last von meinen Schultern bekäme.

Hier geht's zu Teil 2: Beckett über Hölzenbein, Miniröcke und George Best

SPOX: Was waren die größten Erlebnisse Ihrer Karriere?

Beckett: Meine größte Zeit hatte ich in Coleraine, wo ich alle großen Trophäen in Nordirland gewonnen habe. Wir waren zwei Mal, 1975 und 1977, Pokalsieger und das Finale ist in Nordirland immer etwas ganz Besonderes. Auch, weil wir dabei 1977 mit 4:1 gegen den favorisierten FC Linfield gewonnen haben. Das war der beste Tag meines Lebens.

SPOX: Welchen Stars sind Sie begegnet?

Beckett: Ich bin einigen Großen begegnet. Gegen Eintracht Frankfurt habe ich die beiden deutschen Weltmeister Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein kennengelernt. Bis heute schaue ich mir im Internet oder in der Zeitung an, wie Frankfurt gespielt hat. In Großbritannien waren es sehr viele berühmte Fußball-Persönlichkeiten, wie Martin O'Neill von Nottingham Forest oder Manchester Uniteds Torhüter Harry Gregg (rettete beim Flugzeugunglück in München 1958 zwei Kollegen, die Red.). Harry war ein großartiger Torhüter und er wohnt jetzt bei mir in der Nähe. So haben wir viel Zeit, um über Fußball zu quatschen. Und dann natürlich George Best! Er war der beste Fußballer, den Nordirland je hervorgebracht hat und er war mein absoluter Held...

Liam Beckett wurde am 17.7.1951 im nordirischen Ballymoney geborenJohnston Press

SPOX: ... der sicher für einige kuriose Erlebnisse stand, oder?

Beckett: Oh ja. Es war damals die Zeit der Miniröcke und der Hot Pants. Wir fanden das alles ziemlich sexy. Auch das Bier gehörte damals einfach dazu. Heute liest man mehr über eine andere Form von Drogenkultur im Spitzenfußball. Aber in den Siebzigern war es ganz normal, nach dem Spiel ein paar Bier zu trinken. Wir haben die Beatles oder die Rolling Stones aufgelegt - und haben uns volllaufen lassen. Es war großartig. Und George Best? Er war ein echter Schurke, hat sich nie um sein Benehmen geschert.

SPOX: Was verbinden Sie mit dem Fußballer George Best?

Beckett: George war mit einem wunderbaren fußballerischen Talent gesegnet, er kam aus einem kleinen Land - und wurde zum Weltstar. Egal, was er angestellt hat: Die Fans haben ihm immer verziehen. Sie haben ihn geliebt. Ich erinnere mich gut an das Europacupfinale der Meister 1968 in Wembley, Manchester United gegen Benfica Lissabon. George hat die Portugiesen fast im Alleingang erledigt. Oder die Partie gegen Schottland im Windsor Park von Belfast. Nordirland hat Schottland geschlagen und George hat eine Leistung gebracht, wie man sie davor und danach in unserem kleinen Land nie wieder gesehen hat.

SPOX: Was machte die Siebzigerjahre so einzigartig?

Beckett: Die Musik war einfach fantastisch. Die Haare und die Bärte waren lang, die Mode änderte sich ständig, es war einfach aufregend. Der Fußball und seine Stars waren damals darauf fokussiert, Spaß am Spiel zu haben, sonst nichts. Der moderne Fußball ist manchmal langweilig, weil zu viel taktiert wird. In den Siebzigern war der Fußball aufregender. Jetzt ist er ein Spiel mit Robotern. Das wichtigste Element im modernen Spiel scheint mir diese Super-Fitness zu sein. Die Qualität ist gesunken, weil das Spiel - vor allem in Großbritannien - so vorhersehbar geworden ist.

SPOX: Woran liegt das?

Beckett: Ich glaube, dass es für die Fans sehr schwer geworden ist, sich Fußballspiele anzuschauen. Die Spieler werden von Trainern, die selbst nie in den höchsten Ligen gespielt haben, in taktische Zwänge gepresst. Die Spieler verlieren sich in diesem System. George Best war anders...

SPOX: Sehen Sie einen Exodus von jungen Talenten und Fans, die sich lieber einem englischen oder schottischen Klub anstatt einem nordirischen Team anschließen?

Beckett: Ja, das ist ein sehr guter Punkt. Wir haben in Nordirland eine große Anhängerschaft der Glasgow Rangers und des Celtic FC. Diese Klubs und ihr Umfeld führen die politischen Unruhen Nordirlands auf dem Fußballfeld fort. Die Rangers haben einen protestantischen Hintergrund, Celtic hat katholische Wurzeln. Viele Leute gehen daher zu diesen beiden Vereinen, um diesen Glaubenskampf fortzusetzen. Und dann haben wir noch den FC Liverpool und Manchester United, zu deren Spielen ebenfalls viele Fans an den Wochenenden hinüberfahren.

SPOX: Sie sind heute ein angesehener Fußball-Experte in Nordirland, schreiben Kolumnen und leiten eine eigene Akademie. Wer wird der nächste Superstar aus Ihrem Land?

Beckett: Da muss ich nachdenken. In der nordirischen Nationalmannschaft sind sicherlich einige gute Jungs dabei wie Steve Davis von den Glasgow Rangers oder Top-Verteidiger Aaron Hughes vom FC Fulham. Beide könnten überall in Europa spielen. Außer vielleicht beim FC Barcelona.

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