Das Geständnis war Nuri Sahin abzunehmen. Der Mittefeldspieler von Borussia Dortmund offenbarte in den Katakomben des Signal Iduna Parks nach Spielende immer noch einen etwas ratlosen Gesichtsausdruck, als man ihn nach der nun neuen Ausgangssituation des BVB fragte.
"Der Trainer hat es am Montag kurz erklärt", meinte er mit Hinblick auf die diffusen Tabellenkonstellationen, die vor dem 5. Spieltag der Champions League in der Gruppe F möglich waren und auch weiterhin sind.
"Ich habe es ehrlich gesagt aber nicht verstanden", gab Sahin zu, "ich habe auf dem Platz Sebastian Kehl kurz gefragt, ob das 2:1 reichen würde. Er meinte: Hauptsache wir gewinnen. Nach dem 3:1 habe ich Kevin Großkreutz gefragt und er hat gesagt, dass es reicht."
Nicht der beste Fußball
Genau so ist es, Dortmund würde mit einem Sieg im letzten Gruppenspiel bei Olympique Marseille das Achtelfinale erreichen - oder muss mindestens so spielen, wie Napoli zuhause gegen den FC Arsenal spielen wird.
Der BVB machte unter dem enormen Druck nach drei Fahrtkarten in Serie eine glänzende Partie, "auch wenn das nicht der beste Fußball war, den Borussia Dortmund anbieten kann", wie Kapitän Kehl meinte.
Bender ein "Ausnahmeprofi"
Die erneut umformierte Abwehr mit Sven Bender als Innenverteidiger neben Sokratis hatte zwar mit Abstimmungsproblemen zu kämpfen, biss sich aber schnell in die Partie und brachte gegen physisch starke Neapolitaner dazu eine gewisse Rustikalität mit, die es in Zeiten wie diesen beim BVB auch braucht.
Bender verletzte sich mal wieder im Gesicht, blieb aber mit einem Nasenbeinbruch über eine Stunde lang auf dem Feld. "Das ist ein absoluter Ausnahmeprofi. Andere hätten das nicht so lange ausgehalten", lobte Keeper Roman Weidenfeller den Gebeutelten. "Auf ihn kann man sich in jeder Situation verlassen, er ist einfach ein unglaublicher Mensch", sagte Sahin.
Benders durchgestandenes Leid war am Dienstagabend auch Spiegelbild des Auftritts der Schwarzgelben. Dortmund boxte sich diesmal regelrecht durch, obwohl Napoli durchgängig im Spiel war und nach dem Anschlusstor dazu ausholte, es kippen zu lassen.
Problem Chancenverwertung bleibt
Und obwohl der BVB erneut eine Partie erwischte, in der die Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor mangelhaft war, hatte das Team in allen Phasen des Spiels selbst die Gelegenheit, den Sack zuzumachen und dem Gegner den Glauben zu rauben.
Doch Robert Lewandowski, Marco Reus, der überragende Henrikh Mkhitaryan und der später ins Spiel gekommene Pierre-Emerick Aubameyang scheiterten sowohl aussichtsreich, als auch kläglich. Im letzten Drittel wurden reihenweise falsche Entscheidungen getroffen, die die Borussia entweder Nerven oder wie zuletzt in der Bundesliga Punkte kosten.
Die Beteiligten sind weitestgehend ratlos, wie ein Patentrezept gegen diese Schwäche aussehen könnte. Sie lassen offen, ob es das überhaupt geben kann.
Weidenfeller sauer
Roman Weidenfeller, der schon nach der Pleite gegen die Bayern aufgrund des schludrigen Umgangs mit guten Einschussmöglichkeiten einen Hals hatte, war erneut nicht zufrieden: "Wir hatten wieder große Möglichkeiten, bei denen wir den klaren Blick nicht bewahrt haben. Wir sollten uns darauf besinnen, auch die leichten Bälle einfach mal reinzuhauen", sagte der Keeper.
Er spielt damit auf die Beobachtung an, dass Dortmunds Kreativspieler in diesen Situationen häufig zu viel Phantasie beweisen und vor dem Kasten manches Mal noch ein letztes und oftmals unnötiges Schleifchen um die Angriffe schnüren möchten.
Das Thema Chancenverwertung begleitet die Westfalen seit geraumer Zeit. Es kommt und geht, kann dann aber teils groteske Ausmaße annehmen. Napoli war in etwa so ein Fall, das erste Champions-League-Auswärtsspiel unter Trainer Jürgen Klopp aber noch viel mehr.
Die Torschüsse von Borussia Dortmund gegen den SSC Neapel
Damals in Marseille...
Am 28.September 2011 spielte Dortmund am 2. Spieltag - der Gruppe F - in Marseille und war dabei schwer überlegen. Mario Götze tat sich damals in vorderster Front auf, beste Möglichkeiten zu versieben.
Etwas mehr als zwei Monate später musste der BVB zu Hause gegen Marseille unbedingt mit drei Toren Differenz gewinnen, um noch eine Chance auf das Achtelfinale zu haben.
Beide Spiele verlor Dortmund (0:3 und 2:3) und schied als Letzter aus. Die Begegnung in Frankreich gehört bis heute zu den Sinnbildern der Naivität, mit der man im ersten Versuch in der Königsklasse zu Werke ging.
Revanchegedanke ist groß
Der Revanchegedanke gegenüber Marseille ist groß, genauso groß wie die Lust zu beweisen, dass aufgrund der seitdem ausgelösten Entwicklung eine Herausforderung wie die am kommenden 11. Dezember zu meistern ist.
"Nach den Spielen in der Gruppenphase vor zwei Jahren haben wir noch eine Rechnung offen. Wir haben da etwas gutzumachen", erinnerte sich Klopp sofort. "Aber Marseille will sicher nicht mit null Punkten aus der Champions League ausscheiden. Dort wird im Stadion bestimmt einiges los sein", schränkte der Coach ein, der zudem betonte, nun bloß nicht zu denken, es wäre bereits eine Vorentscheidung gefallen.
Der Druck bleibt
"Das Spiel in Marseille wird schwer, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Die wollen einfach den letzten Champions-League-Spieltag noch mitnehmen und Spaß haben. Das ist sehr gefährlich. Wir wollen uns aber auch nicht auf Arsenal oder Neapel verlassen, sondern einfach unser Ding durchziehen", sagte Sahin.
Sollte die Revanche nicht gelingen und am Ende doch nur die Teilnahme an der Europa League stehen, verpasst Borussia Dortmunds erstmals unter Klopp ein vor der Saisonziel offiziell verkündetes Saisonziel. Der Druck wird also bleiben, die neue Zeit, die beim BVB zuletzt angebrochen ist, hält mindestens bis zur Winterpause an.
Dortmund - Napoli: Die Statistik zum Spiel