Am Tag nach dem Hinspiel gegen die Bayern wandte sich Mesut Özil an seine Fans. Und an seine Kritiker. Auf seiner Facebook-Seite formulierte Özil eine Art Entschuldigungsschreiben. 155 Zeichen in deutscher Sprache, der eher triviale Inhalt wird übersetzt ins Englische, Spanische und Türkische.
222.000 Nutzer sehen das ganz anders. Ihnen gefällt, was sie da lesen. Fast 19.000 hinterlassen Özil einen Kommentar. Nicht alle davon sind Fans des FC Arsenal und noch viel weniger halten es mit der deutschen Nationalmannschaft.
1,6 Prozent von Özils derzeit rund 16,5 Millionen Facebook-Fans kommen aus dem Vereinigten Königreich, immerhin 5,8 Prozent oder knapp 960.000 in absoluten Zahlen sind Deutsche. Der gesamte FC Arsenal hat "nur" fünf Millionen Fans mehr als einer seiner 33 Profis. Die deutsche Nationalmannschaft nur einen kleinen Bruchteil von dem, was Özil aufweisen kann.
"Wie ein Taschendieb"
Mesut Özils Wert als Marke ist weiter exorbitant und nimmt stetig rasant zu. In den letzten Wochen musste aber 25-Jährige auch lernen, wie schnell es in die andere Richtung gehen und wie schnell man zwischen die Stühle geraten kann.
Die Partie gegen die Bayern war der Tiefpunkt einer schleichenden Entwicklung in den letzten Wochen. Die Yellow Press hatte den Deutschen schon länger im Visier. Als es im November gegen Manchester United eine Partie wie aus den Urzeiten des englischen Fußballs gab, mit tieffliegenden Tacklings und einer selbst für britische Verhältnisse rohen Härte, tauchte Özil ab. Zumindest wurde das öffentliche Bild auf der Insel so gemalt.
"Unsichtbar" und "wie ein Taschendieb" soll Özil über den Platz geschlendert sein, während sich die restlichen 21 Spieler eine wahre Schlacht lieferten. Die Wochen danach wurden kaum besser.
16 Spiele ohne Tor
Zwischen seinen beiden Toren gegen Everton in der Liga Anfang Dezember und jetzt am Wochenende im FA-Cup lagen exakt ein Vierteljahr und 16 Pflichtspiele ohne Treffer. Es war die längste Durststrecke aller Offensivspieler der deutschen Nationalmannschaft, sofern sie denn in diesem Zeitraum nicht verletzt waren.
Im goldenen Herbst hatte Özil die Arsenal-Fans noch verzückt, bei der deutschen Nationalmannschaft war er mit acht Toren der mit Abstand erfolgreichste Torschütze der WM-Qualifikation. Womit, unfreiwillig, auch schon ein Teil des vermeintlichen Problems genannt ist: Özil brilliert in den eher unwichtigen Phasen, er sei kein Spieler für die großen Partien. Das behaupten seine Kritiker.
Am Mittwoch kommt Özil zurück nach Deutschland. In München soll er dem FC Arsenal helfen, einen 0:2-Rückstand aus dem Hinspiel noch aufzuholen. Sein letzter Besuch in der Heimat verlief einigermaßen absurd. Vor dem Spiel der Nationalmannschaft gegen Chile wurde Özil als Spieler des Jahres 2013 ausgezeichnet. Die Mitglieder des Fanclub Nationalmannschaft hatten in der Mehrzahl für Özil votiert.
Das Stadion, hauptsächlich gefüllt mit klassischen Fans der Nationalmannschaft, applaudierte artig bis entzückt. Als Özil dann eine Minute vor dem Ende ausgewechselt wurde, pfiffen ihn die Leute aus. Es dürfte momentan keinen anderen Nationalspieler geben, der mehr polarisiert als Özil.
Etwas zu wenig Fußball?
Die Zeitungen waren in den letzten Wochen voll mit Geschichten über ihn. Da ging es um neue Marketingstrategien, die Aufstockung seiner Fan-Base, seinen Millionen Euro schweren Deal mit einem Sportartikelhersteller, um seinen Vater als Berater und ein bisschen auch seine Lebensgefährtin aus dem Showgeschäft. Es ging dabei kaum um Fußball.
Vielleicht hat der eine oder andere aus seinem Umfeld zuletzt etwas die Orientierung verloren. Mesut Özil ist in erster Linie ein Fußballprofi. Sein Vater Mustafa hatte offenbar weitreichendere Pläne, wenn er sagt: "Allein ein guter Fußballer zu sein, das reicht nicht." Mustafa Özil wollte in seinem Sohn ein Role Model entdeckt haben, eine Ikone wie es nur drei, vier andere Spieler auf der Welt derzeit sind. Ronaldo, Ibrahimovic, Beckham, vielleicht Messi. Mittlerweile hat sich Mesut Özil von seinem Vater als Berater getrennt.
"Ich habe mich immer als Fußballspieler gesehen und sehe mich auch weiter als Fußballspieler. Das weiß jeder, der mich kennt", stellte Özil klar. Vielleicht ein bisschen zu spät, denn die öffentliche Wahrnehmung hatte sich bis dato längst gedreht. Ebenso wie die Tabelle der Premier League sich grundlegend verändert hatte: Özil ging mit Arsenal den aus den letzten Jahren gewohnten Weg. Aus zwischenzeitlich fünf Punkten Vorsprung als Spitzenreiter sind nunmehr sieben Punkte Rückstand auf Platz eins geworden.
Diese Dinge gepaart mit den klassischen Problemen neuer Spieler in der Premier League und der überdimensionalen Ablösesumme ergaben rund um den Jahreswechsel eine unschöne Mixtur für Özil. Wie viele andere vor ihm fiel der kreative Kopf der Mannschaft in ein Formtief.
Probleme wie viele andere auch
"Fast alle neuen Spieler haben in der Premier League eine Eingewöhnungszeit gebraucht. Das hat zuletzt auch Jens Lehmann gesagt. Hier gibt es ganz andere Anforderungen", stellte Özil klar. "Bei mir war klar, dass ich in ein Loch falle, weil mir die gesamte Vorbereitungszeit mit Arsenal fehlt."
Die fehlende und gewohnte Pause zwischen den Jahren und der damit einhergehende fließende Übergang in England, das zudem noch einen Pokalwettbewerb mehr abhält als in Deutschland oder Spanien, hat Özil aus dem Tritt gebracht. "Ich war nie Spieler oder Trainer in England. Aber ich glaube schon, dass das eine sehr große Umstellung bedeutet, ohne Pause zu spielen", sagt Bayerns Trainer Pep Guardiola. "Ich kann mir schon vorstellen, dass es sehr schwierig ist, so zu spielen."
Özil hofft, diese Zeit nun hinter sich gelassen zu haben. "Zwischendurch war ich auch nicht zufrieden mit meiner Leistung. Aber das habe ich mittlerweile überstanden." Dass er unter strenger Beobachtung steht, interessiert ihn nicht. "Die Zeitungen haben drei Wochen zuvor etwas anderes geschrieben und in drei Wochen werden sie auch wieder was ganz anderes schreiben. Das ist in England Teil des Geschäfts", sagt er.
Erster Lichtblick im FA Cup
Trotzdem blieb ein Bild hängen und das wird er jetzt nicht mehr so schnell los. In seinen besten Zeiten in London wurde er wegen seiner Nonchalance und seiner Lässigkeit gefeiert. Jeder halbherzige Sprint war nur Teil des großen Plans: Den Gegner gleich wieder durch einen seiner unübertroffenen Schlenker zu verwirren oder aus dem Gleichgewicht zu bringen. Oder auch im sechsten Versuch den riskanten Pass durch mehrere Abwehrbeine hindurch zu versuchen - obwohl er damit bereits fünfmal zuvor gescheitert war.
Die Lässigkeit wurde als Arroganz erkannt, das risikoreiche Spiel als eine Gefahr für seine Mannschaft. Özil war noch nie ein Stratege des Defensivspiels. Das wurde geduldet, solange er in der Offensive ein paar entscheidende Aktionen hatte. Seine Defizite in der Rückwärtsbewegung wurden aber umso deutlicher, je weniger er im Angriff zustande bekam.
Und wenn dann auch noch die Körperspannung fehlt und der letzte Biss, sich total für eine Mannschaft aufzuopfern, hagelt es Kritik. "Wir haben schon während des Spiels die ganze Zeit mit ihm gesprochen. Wir mussten ihn ja aufbauen, weil er ein wichtiger Spieler ist", berichtete Per Mertesacker von der Partie gegen die Bayern, als Özil nach seinem verschossenen Elfmeter nur noch wie ein Schatten durchs Emirates gehuscht war.
Umso wichtiger war für ihn die Partie gegen Everton im Pokal. Die Schmähungen vom Länderspieltrip waren mit seinem Führungstreffer wie ausgeblendet.
Wenger lobt Özil
"Dieses Spiel war natürlich wichtig für ihn und auch wie er die Chance genutzt hat, sein Tor zu erzielen. Ich hoffe, dass ihn das jetzt ermutigt. Er sah physisch regeneriert aus und hatte mehr Power in seinen Läufen", sagte Arsenal-Coach Arsene Wenger. "Mir hat gefallen, dass er viel Drecksarbeit geleistet hat. Wenn er sich so verhält, haben wir natürlich bessere Chancen, das Spiel zu gewinnen."
Mit Arsenal dürfte in der Champions League gegen die Bayern im Achtelfinale Schluss sein. Dafür sind die Bayern zu dominant im Moment und gerade zu Hause kaum zu bezwingen. Die eine große Bühne wird sehr wahrscheinlich schon im Frühjahr schließen. Also dürfte sich der Fokus schon früh auch auf die Weltmeisterschaft verlegen.
"Ich weiß, was Mesut kann. Er ist ein Schlüsselspieler unserer Mannschaft", sagt Bundestrainer Joachim Löw. Er war es, der den Lebenswandel und die Einstellung einiger seiner Spieler zuletzt ungewohnt hart kritisiert hatte und zur Räson aufgerufen hatte. Özils Werdegang in den letzten Wochen lässt zumindest die Vermutung zu, dass er damit auch seinen Spielmacher gemeint haben könnte.
DFB: Konkurrenzkampf auch für Özil
Löw redet gerne davon, dass er flexibel und variabel spielen lassen will im Mittelfeld. Dass er keine "Sechser, Achter oder Zehner im klassischen Stil" haben möchte. Sondern Spieler, die auf verschiedenen Positionen einsetzbar sind, ohne Qualitätsverlust.
"Ich möchte auf diesen Positionen viel Variabilität. Die drei Spieler sollen die Positionen tauschen", sagt der Bundestrainer. Philipp Lahm dürfte noch am ehesten auf eine defensivere Rolle festgelegt sein. Bastian Schweinsteiger, Toni Kroos oder vielleicht sogar noch Sami Khedira könnten Löws Forderung problemlos folgen. Özil fühlt sich im offensiven Zentrum am wohlsten, eine auch nur situative Rotation in die Defensive kann man sich momentan nur sehr schwer bei ihm vorstellen.
Dazu ist der bayerische Mittelfeldblock mit Lahm, Schweinsteiger, Kroos und womöglich noch Mario Götze ein ordentliches Pfund. Auch der eigentlich unumstrittene Özil wird sich bis zur WM ganz schön strecken müssen, um da nicht nach hinten abzukippen.
Die Partie gegen die Bayern in der Allianz Arena ist für ihn aus diversen Gründen eine der wichtigeren der jüngeren Vergangenheit. Nicht nur der Bundestrainer wird genau darauf achten, wie sich Mesut Özil da präsentieren wird.
Bayern München - FC Arsenal: Zahlen und Fakten