"Niemand dachte, dass die Kluft zwischen den Römern und den Bayern so dramatisch sein würde", klagte der "Corriere della Sera" nach dem denkwürdigen Abend im Stadio Olimpico. Mit 7:1 hatten die Bayern bei der Roma gewonnen, eines der besten Teams der Serie A in Halbzeit eins derart demontiert, dass Erinnerungen an das WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Brasilien wach wurden.
Eigentlich erreichte an diesem Tag nur ein Spieler der Roma Normalform - und der sorgte dann auch dafür, dass es für den deutschen Rekordmeister nicht zum "Shutout" reichte. Gervais Yao Kouassi, kurz "Gervinho", entwischte der Dreierkette ein ums andere Mal, und hätte er nicht in Manuel Neuer zum wiederholten Male seinen Meister gefunden, er hätte seinen Arbeitstag auch mit zwei oder drei Toren beenden können.
Dennoch hat der 27-jährige Offensivmann bereits drei Tore in der Königsklasse auf dem Konto: Beim 5:1 der Roma gegen ZSKA Moskau war er mit zwei Treffern und einem Assist Sieggarant, auch gegen Manchester City lieferte er eine solide Leistung ab. Gervinho als Torjäger?
Vereint mit dem "Gervinho-Flüsterer"
Wem das spanisch vorkommt, verbindet den agilen, aber teilweise etwas unkoordiniert wirkenden Ivorer wohl vor allem mit dem roten Trikot des FC Arsenal. Von 2011 bis 2013 spielte er im Emirates Stadion - und sorgte sowohl beim Publikum, als auch bei Coach Arsene Wenger für graue Haare und sprachloses Entsetzen angesichts unglaublicher Fehlschüsse. Mehr noch: Gervinho wurde zum Symbol des abschlussschwachen Angreifers und der verfehlten Einkaufspolitik der Gunners. Für zwölf Millionen Euro war er aus Lille gekommen, im vergangenen Sommer schließlich für acht Millionen an die Roma verscherbelt.
Dass er seine Karriere dort neu beleben konnte, verdankt er einem alten Bekannten.
Wenn Gervinho bei Arsenal ein Krisenspieler war, dann war die Roma im Sommer 2013 ein Krisenklub. Drei Jahre in Serie war man über Platz sechs nicht hinausgekommen, die Vereinsführung hatte in zweieinhalb Jahren gleich fünf Trainer verschlissen.
Nummer sechs sollte Rudi Garcia sein. Der Franzose hatte zuvor den OSC Lille trainiert und 2011 sensationell das Ligue-1-Double geholt. Garcia sagte zu - unter einer Bedingung: Er wollte bei den Transfers mitreden. Und eben diesen Gervinho verpflichten, den er in Le Mans und Lille groß gemacht hatte und der in zwei Jahren an der belgischen Grenze insgesamt 36 Mal geknipst hatte. "Ich hätte Gervinho für keinen anderen Coach der Welt verpflichtet", verriet Sportdirektor Walter Sabatini, "und die Verhandlungen waren alles andere als einfach."
Passender Trainer, passendes System
Hin und wieder gibt es eine Symbiose zwischen Trainer und Spieler, zwischen Schulmeister und Lehrling, die sich auf beiden Seiten positiv auswirkt. Gervinho und Garcia, das ist so eine. "Ich kenne ihn, und er kennt mich", betonte Gervinho nach seinem Wechsel. "Er weiß, wie ich spielen muss, ich spüre die Zuneigung zwischen uns beiden. Er weiß, wie er mich packen muss, wenn ich gut spiele, und auch, wenn ich schlecht spiele."
Sabatini setzte darauf, dass sich die beiden, wie schon in Lille geschehen, besser machen würden. Der 50 Jahre alte Coach kannte seinerseits die Stärken seines Schützlings - und schneiderte ihm in der ewigen Stadt ein passendes Spielsystem auf den Leib.
(K)ein zweiter Ronaldo
Wo Wenger Gervinho vor allem als Flügelspieler in einem auf Ballbesitz ausgelegtem System einsetzte, mit möglichst vielen Kombinationen trotz wenig Platz, spielt Garcia dessen Trumpfkarte aus: Schnelligkeit. Direkt vorgetragene Angriffe mit viel Platz und einem zumeist überforderten Gegenspieler vor sich. Besonders eng ist Gervinhos Ballführung nicht - aber der Speed ist exzellent. "Mit dem Ball am Fuß wäre ich schneller als Usain Bolt", behauptete der 1,79-Meter-Mann Anfang des Jahres.
Die Stärke darf und soll er für die Römer ausspielen. "Der Coach sagt mir immer, dass ich ins Dribbling gehen und den Abschluss suchen soll", sagt Gervinho. "Er will, dass ich den Unterschied mache." Garcia gegenüber dem "Corriere dello Sport": "Er spielt nicht so gern auf kleinen Plätzen. Deshalb trainieren wir immer auf den großen."
Gefüttert von den Pässen des ewigen Römers Francesco Totti kam Gervinho in seiner ersten Saison in Italien auf zwölf Tore und zwölf Vorlagen in 37 Einsätzen. "Ich hatte ihn nur zwei, dreimal mit Arsenal gesehen, aber aus der Nähe ist er ein Monster", staunte Totti. "Wenn er noch mehr Tore schießen würde, dann wäre er ein zweiter Cristiano Ronaldo." Bei den Romanisti ist "Er Tendine", wie er aufgrund seines Vorhang-ähnlichen Haupthaares genannt wird, so zum Publikumsliebling avanciert.
"Nicht viel in England gelernt"
"Ich habe mich bei der Roma sofort wohlgefühlt", bekannte der Flügelflitzer, der unter Garcia oft als Flügelstürmer im 4-3-3 eingesetzt wird. "Ich hatte kein Problem damit, mich an den italienischen Fußball zu gewöhnen." Ein Problem hat er allerdings mit seinem Trainer bei Arsenal: "Es ist schwer, das nötige Selbstvertrauen zu haben, wenn der Coach kein Vertrauen in dich hat", schimpfte er in einem Interview mit "Sports Illustrated". "Ich habe England verlassen, weil ich nicht gespielt habe. Was ich dort gelernt habe? Nicht viel, ehrlich gesagt, weil man auf der Bank eben nichts lernt."
Er respektiere Wenger, doch unter Garcia sei er wieder glücklich, weil er dessen Vertrauen voll und ganz besitze: "Wenn ich morgens aufwache, kann ich das Training kaum erwarten. Garcia ist großartig, er gibt mir im Training immer gute Ratschläge."
Auch damit ist es zu erklären, dass Gervinho in Italien plötzlich seine Bestleistung abrufen kann - wenn auch das insgesamt niedrigere Niveau der Serie A im Vergleich zur Premier League sicherlich eine Rolle spielt. Eine bittere Pille für die Gunners-Fans - und vielleicht auch ein warnender Hinweis an Lukas Podolski?
"Spiele immer noch barfuß"
Ein schwacher Trost mag sein, dass der in seinem Heimatland schon als Nachfolger des großen Didier Drogba angesehene Angreifers trotz allem nicht zum waschechten Torjäger avanciert ist. Wobei auch das seine guten Seiten hat, weiß Totti: Schließlich hätte man ihn sich sonst nicht leisten können. "Man muss bedenken, dass er diese Möglichkeiten selbst erst kreiert", verteidigt ihn sein Coach. "Ohne ihn gäbe es sie überhaupt nicht."
Mit der Schwachstelle in seinem Spiel geht Gervinho allerdings offen um - und tauscht einen eiskalten Abschluss gerne gegen eine wilde, unbekümmerte und teilweise eben unberechenbare Spielweise ein. "In meinem Herzen spiele ich immer noch barfuß", betonte das zweitälteste von elf Kindern, das erst sehr spät auf Fußballschuhe umsteigen konnte.
Vor dem Tor "wie im Nebel"
"Wenn einer sagt, dass ich wie ein Afrikaner spiele, dann ist das für mich keine Beleidigung. Es ist wahr, wir kommen von der Straße, da sind Dribblings notwendig, weil man um Hindernisse und Gefahren herumspielen muss", erinnert er sich. "Unberechenbar und unerreichbar zu sein empfinde ich als Kompliment." Für Elfmeter etwa sei er zu "anarchisch" - zum Glück müsse er keine schießen.
"Vielleicht ist mein Kopf nicht so schnell wie meine Füße, aber dafür muss ich mich nicht rechtfertigen." Was nicht heißt, dass er nicht daran arbeiten will, den Spott aus seiner Arsenal-Zeit vergessen zu machen. Selbst wenn sich vor dem Tor immer noch manchmal "ein Nebel auf ihn herabsenkt".
So klingt jemand, der seinen Frieden gefunden hat. Nach nur einem Jahr im Trikot der Roma wurde sein Vertrag bis 2018 verlängert. Gervinho hat das Vertrauen seines Trainers, das Vertrauen seiner Mitspieler und die Zuneigung der Fans. Beste Voraussetzungen also, um sich in München erneut mit dem besten Torwart der Welt zu messen.
Gervinho im Steckbrief