Xavi Hernandez, 35, hat alle Facetten des Fußballs erlebt. Er ist seit 17 Jahren Profi, holte in 899 Spielen insgesamt 28 Titel. Doch wenn man ihn nach seiner Definition von Fußball fragt, sieht er nicht all die gewonnenen Trophäen. Nicht die ausverkauften Stadien, nicht die gigantische Marketing-Maschinerie. Er zeichnet ein Bild, das romantischer kaum sein könnte:
"Fußball, das ist ein Ball und ein paar Freunde - und los geht's! Ein kleines Spiel, ein Kreis, den Ball hin und her passen, am Strand oder im heimischen Garten. Kids, die sich die Bälle im Schulhof zuspielen. Die lachen. Das ist Fußball."
Das Zitat stammt aus einem bemerkenswerten Interview, das Xavi vor einigen Wochen El Pais gab. Es könnte kaum charakteristischer sein für den Fußballer Xavier Hernández i Creus. Er ist einer der größten Fußball-Puristen seiner Zeit. Ein Idealist, ein Ästhet, ein Romantiker. Einer, der Cruyff für dessen Spielidee vergöttert. Über den Sergio Ramos vom Erzrivalen aus Madrid sagt, er verkörpere "Fußball in seiner reinsten Form."
Perpetuum mobile des perfektionierten Passspiels
Xavi spielte so, wie er tickte - und andersrum. Der Fußballer Xavi lebte von der Liebe zum Ball, den er niemals dem Gegner überlassen wollte. Er würde niemals einen absichtlichen Fehlpass spielen, ganz egal, wie oft dieser von Experten zum Taktik-Kniff der Zukunft erklärt wird. Er liebt das Gefühl der Überlegenheit, das er hat, solange seine Gegenspieler dem Ball bloß hinterherlaufen. Kaum ein Profi steht so repräsentativ für Dominanz durch Ballbesitz wie Xavi.
Der Katalane wurde zum Symbol für ein immer ähnliches und doch stets außergewöhnlich umgesetztes Stilmittel: Für eine Ballannahme, die den nächsten Schritt längst berücksichtigt hatte. Für die Drehung, weg aus der Einflusszone des Gegenspielers, hin in bestehende oder sich gerade erst öffnende Räume. Für eine einmalige Antizipation der Laufwege seiner Mitspieler. Und letztlich für den Pass, oft simpel und kurz, aber so bewundernswert konsequent mit dem perfekten Timing versehen. Xavi war das Perpetuum mobile des perfektionierten Passspiels.
Von Xavis unzähligen als Profi gespielten Pässen - sie dürften in einer hohen fünfstelligen Grauzone liegen - blieb nur ein minimaler Prozentsatz in Erinnerung. Auf den ersten Blick glich oft einer dem anderen. Nur wenige sind bis heute im Gedächtnis fest verankert. Wie zum Beispiel sein Geniestreich bei der EM 2008, als er Fernando Torres den Weg zum 1:0 im Finale gegen Deutschland ebnete.
Herzstück der Barca-DNA
Jener erste Titel einer spanischen Nationalmannschaft seit 44 Jahren leitete eine Hochphase spanisch-katalanischer Fußball-Dominanz ein. Ihr Herzstück war Xavi. Die Basis dafür wurde schon Jahre zuvor gelegt, als Frank Rijkaard nach vier titellosen Jahren das Zepter bei Barcelona übernommen hatte. Fortan galt, wie es Xavi rückblickend formuliert: "Wenn wir siegten, dann aus dem Ballbesitz heraus, mit dem Ball, weil wir angriffen, um zu verteidigen."
Für den 35-Jährigen war Dominanz durch Ballbesitz nicht nur eine Spielweise. Es war nicht irgendeine Idee, geboren auf der gedanklichen Taktiktafel eines Trainers. Wenn Xavi über diese Philosophie spricht, spricht er von "esencia". Er meint das Wesen eines Spielsystems, quasi die taktische DNA Barcelonas. Das Tiki-Taka wurde zur Barca-DNA.
Als der Verein zwischen 1999 und 2004 keinen einzigen Titel holte, lautete Xavis simple Begründung: "Wir haben unsere DNA verloren." Unter Pep Guardiola wurde diese dann perfektioniert. Selten zuvor hat ein Team jemals eine solche Überlegenheit am Ball ausgestrahlt wie das Barca von 2009.
Wenn Xavi an die Triple-Saison zurückdenkt, sagt er: "Es war das beste Jahr in der Historie. Niemals sah man besseren Fußball als diesen. Wenn ich es heute sehe, denke ich mir: Es ist unmöglich, besser zu spielen." Fazit: "Dieses Jahr war pure esencia."
2012: Xavis Horrorszenario wird wahr
Damals schien die fußballerische Hegemonie von Guardiolas Barcelona unantastbar. Die ästhetischste Mannschaft der Welt war über Jahre hinweg zeitgleich die erfolgreichste. Romantik in Vollendung. Immer mittendrin: Xavi, der mit Verein und Nationalmannschaft Titel um Titel abräumte.
Doch umso weiter die Zeit voranschritt und Guardiola mit Barcelona das Tiki-Taka bis in kleinste Details perfektionierte, umso besser lernten gegnerische Teams sich darauf einzustellen. 2012 folgte das ultimative Horrorszenario für den Fußballidealisten Xavi. Das Aus in der Königsklasse gegen Roberto Di Matteos Chelsea.
Barcelonas Fußballkunst wurde besiegt von Effizienz, Kampf und kompromissloser Bereitschaft zur Mauertaktik. Der Superlativ der Nicht-Romantik. Xavis Idealisten-Herz blutete. Angeblich hat er sich nach dem Ausscheiden zwei Tage lang komplett verkrochen. Kaum ansprechbar für seine Außenwelt.
Transformation der DNA
Jener Triumph des FC Chelsea über das Tiki-Taka leitete eine Transformationsphase ein, die für Barcelona wie für Xavi gleichsam schwer wurde. Immer mehr Teams fanden eine Antwort auf die Barca-DNA. Die Spielweise der Katalanen benötigte eine Modifikation. Für kaum einen Spieler dürften diese Erkenntnis und der folgende Prozess schwerer zu verkraften gewesen sein als für Xavi.
"Öffne deine Augen und lerne", hatte ihm sein Vater einst vor dem ersten Besuch in La Masia gesagt. "Das habe ich getan. Ich habe gelernt, gelernt und gelernt", so Xavi. Er lernte die Barca-DNA, in- und auswendig. Niemand hatte sie so sehr verinnerlicht, so perfektioniert wie Xavier Hernandez.
Im dritten Anlauf der Post-Guardiola-Ära, unter Luis Enrique, vollzog Barcelona letztlich die Transformation des Spielsystems. Noch immer beherrscht Barca das zermürbende Ballbesitzspiel, doch es ist variantenreicher geworden. Mittlerweile sind die Katalanen auch Spezialisten für blitzartiges Umschalten. Die Offensivreihe hat mit Luis Suarez und Neymar nochmal derart an Genialität gewonnen, dass sie seltener auf spektakuläre Ideen aus dem Mittelfeld angewiesen ist.
"Mein Herz gehört Barca"
Obwohl Xavi in der laufenden Champions-League-Saison stets einsatzbereit war, erhielt er nur 326 Minuten - Nummer 15 in der teaminternen Rangliste. Gerade in wichtigen Spielen wurde ihm immer häufiger Ivan Rakitic vorgezogen. Der passt besser in das Spiel von Luis Enrique, das sowohl physischer als auch vertikaler geworden ist.
Kurzum: Xavi ist nicht mehr so essentiell für Barcelonas Spiel wie in all den erfolgreichen Jahren unter Pep. Eine bittere Tatsache für den Ballkünstler, der wohl trotz seines gestandenen Alters ein, zwei Jahre klassisches Tiki-Taka noch mitgemacht hätte. Doch am Ende ist es seine eigene Perfektionierung, die totale Verinnerlichung der einstigen esencia, die Xavi nun sportlich verzichtbar macht.
Nun verlässt er die große europäische Bühne, um sich Al-Sadd anzuschließen. Für ihn sei "der richtige Moment" nun gekommen. "Mein Kopf sagt es mir und mein Körper gibt mir Zeichen. Das Herz jedoch nicht. Mein Herz gehört Barca und hier wird es bleiben."
Xavi Hernandez im Steckbrief