Jesus oder Judas?

Von Marco Kieferl
Jorge Jesus wurde bei Sporting trotz Benfica-Vergangenheit herzlich aufgenommen
© getty

Jorge Jesus galt als Heilsbringer aller Fans von Benfica Lissabon, ging im Sommer im Streit aber ausgerechnet zu Stadtrivale Sporting. Das Verhältnis beider Vereine ist seitdem kritisch, die Einlage des Trainers gegen seinen Ex-Klub in der Supertaca macht die Lage nicht besser. Jesus liebt die Gradwanderung zwischen Rumpelstilzchen und Erfolgscoach. Fortsetzung folgt am Mittwoch in Moskau (20.45 Uhr im LIVETICKER).

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Als Jorge Ferdinando Pinheiro de Jesus 2009 von Braga zu Benfica Lissabon wechselte, herrschte bei den Fans des damals mitgliedsstärksten Vereins der Welt eine gehörige Portion Skepsis. Wie sollte ein unerfahrener Trainer, dessen größter Erfolg ein fünfter Platz mit dem SC Braga in der Vorsaison war, den Rekordmeister zum ersten Meistertitel seit 2005 führen?

Ein Jahr später feierten die Adler den Meistertitel. Spätestens im Sommer 2015 war Jesus nach insgesamt drei Meistertiteln und zwei Finalteilnahmen in der Europa League endgültig zum fußballerischen Heilsbringer aufgestiegen. Einzig den Guttmann-Fluch, jener ominösen Verwünschung des gleichnamigen Ex-Trainers, wonach Benfica 100 Jahre lang keinen internationalen Titel nach dessen Beurlaubung gewinnen solle, konnte selbst der mittlerweile 61-Jährige nicht brechen.

In der Sommerpause vollzog der ehemalige Benfica-Liebling jedoch eine interessante Wandlung: Jesus wurde zum Judas, aus der Trainer-Lichtgestalt wurde der böse Verräter. Was war passiert? Jorge Jesus wechselte nach Ablauf seines Vertrages ausgerechnet zum Stadtrivalen Sporting. Sechs Millionen Euro jährliches Salär sollen ihm, so lauten die portugiesischen Gerüchte, den Wechsel versüßt haben.

7,5 Millionen Schadensersatz

Für die Adler sicherlich vergleichbar mit den Silberstücken für den Verrat in der Bibel. Die fordert Benfica nun aber nicht nur symbolisch zurück. Vertragsbruch wirft Präsident Joao Gabriel dem ehemaligen Trainer vor, stolze 7,5 Millionen Euro soll Jesus an den Ex-Klub überweisen. Die Gründe dafür sind verworren.

Die Benfica-Version besagt, dass sich Jesus 13 Tage vor Ablauf seines Vertrages auf Sportings Vereinsgelände eingefunden habe, um über ein neues Arbeitspapier zu verhandeln. Nun soll er selbst die Ausstiegsklausel aus seinem alten Vertrag, eben jene 7,5 Millionen an den Rekordmeister überweisen. Das Gehalt des letzten Monats Juni hat man zur Sicherheit schon einmal einbehalten.

Jesus reagiert auf die Vorwürfe erstaunlich pathetisch: "Ich lebe in einem freien Land. Ich kann mir aussuchen, welchen Verein ich auch immer trainieren möchte." Sein Anwalt Luis Miguel Henrique behauptet ohnehin, dass Jesus das Recht auf seiner Seite habe. Der Trip zum Trainingsgelände Alcochete am anderen Teil der Stadt sei schließlich nur "ein Höflichkeitsbesuch gewesen, um einige neue Trainingseinrichtungen zu sehen."

Ellbogenschlag für den Ex-Schützling?

Der portugiesische Arbeitsrechtler Fausto Leite bezeichnet die Aktion von Jesus zumindest als "unweise". Im schlimmsten Fall handle es sich sogar um "eine ernsthafte Verletzung seiner Vertragspflichten." Sicher scheint nur eines: Der Streit wird sich noch länger hinzuziehen.

Nicht viele Akteure haben in der Vereinsgeschichte den Weg von Benfica zu den Löwen gewählt, dennoch könnte das Thema längst erledigt sein, hätte sich Jesus im ersten Aufeinandertreffen nicht einen seiner berüchtigten Aussetzer geleistet.

Im Finale der Supertaca, das Sporting zu allem Überfluss auch noch mit typischem Jesus-Offensiv-Fußball mit 1:0 gewann, ließ er sich gegen Ende der Partie zu einem angedeuteten Ellbogenschlag gegen seinen ehemaligen Schützling Jonas hinreißen.

Dem Karriereende entgangen

Jesus sprach im Nachhinein von einem Missverständnis, eine Ausrede, die ihm in Portugal seit Längerem niemand mehr abkauft. Bereits 2013 lieferte sich Jesus während des Spiels gegen Vitoria Guimaraes eine Handgreiflichkeit mit Ordnungskräften, die versucht hatten, Benfica-Fans vom Stürmen des Platzes abzuhalten.

"Ich habe niemanden angriffen und wollte das auch nicht tun. Ich wollte nur die Gemüter beruhigen", beschwichtige der ungleiche Namensvetter des Heilands. Dummerweise zeigten die TV-Aufnahmen einen Jorge Jesus, der in purer Rage teilweise sogar von zwei Ordnungshütern zurückgehalten werden musste. Drei Jahre Sperre standen für dieses Vergehen im Raum. Jesus hat seine heutige Karriere dem Umstand zu verdanken, dass er 2013 ein vergleichsweise mildes Urteil von nur 30 Tagen Berufsverbot erhielt.

Bei all den Geschichten mag es ins Bild passen, dass Jesus vor der Supertaca einigen seiner Ex-Spieler provozierende SMS geschickt haben soll. Jesus' Verteidigung war versöhnlich: "Ich kann Ihnen viele freundschaftliche Textnachrichten mit ehemaligen Benfica-Spielern zeigen, weil wir sechs wundervolle Jahre miteinander verbracht haben. Ich weiß, was sie vorhaben."

SMS von Jesus

Bei all den Eskapaden sollte jedoch nicht vergessen werden, was Jesus vorrangig ist: Ein ausgezeichneter Trainer. Sporting nahm die Gerüchte zum Anlass, um unter dem Motto "SMS von Jorge Jesus" eine Werbekampagne für das Hinspiel in der Champions-League-Qualifikation gegen ZSKA Moskau zu machen.

Jesus gilt als einer der geschicktesten Taktiker in ganz Portugal. Nur wenige Tage nachdem er Sporting sein bevorzugtes 4-4-2-System eingeflößt hat, gewann man die Supertaca und legte durch einen 2:1-Heimerfolg gegen die Russen den Grundstein für den Einzug in die Champions League.

"Wir müssen uns als Kandidaten ansehen, der alle Titel in Portugal gewinnen kann", sagte er bei seiner Präsentation zu den Fans. "Wir müssen den Löwen wieder aufwecken, der seit vielen Jahren schläft."

Zurück in die Zukunft

Die Anhänger folgen ihm, der Traum vom ersten Meistertitel seit 2002 ist lebendiger denn je. Nach dem Einstieg des angolanischen Investors Alvaro Sobrinho hat Sporting große Ziele. Mit Jesus glaubt man, dafür den richtigen Leitwolf gefunden zu haben. Ex-Trainer Marco Silva wurde diese Aufgabe trotz laufenden Vertrages und dem Pokalsieg, dem ersten Titel seit 2008, nicht mehr zugetraut.

Jesus sagt man nach, ein ausgeprägtes Auge für Talente zu haben. Die Liste an Spielern, die Benfica in den letzten Jahren gewinnbringend weiterverkaufen konnte, ist von Angel Di Maria über Nemanja Matic und Ramires beinahe unendlich fortführbar.

Bei Sporting findet er dafür beste Voraussetzungen vor: Sieben U21-Nationalspieler Portugals stehen derzeit im Kader, hinzu kommen vier weitere Akteure aus dem U-20-Kader der Selecao. "Die Qualität ist vorhanden", weiß auch der Portugiese selbst.

Persönliche Wiederauferstehung?

Bevor die glorreiche Zukunft beginnen kann, muss Jesus aber erst die Altlasten der Vergangenheit ablegen. Eine außergerichtliche Einigung mit Benfica soll Gerüchten zufolge in der Woche vor dem Hinspiel gegen ZSKA geplatzt sein, doch jeder einzelne Sieg und ganz besonders der Einzug in die Königsklasse bringt Jesus seiner persönlichen Wiederauferstehung als Trainer näher.

Mindestens einmal wird ihn die Vergangenheit aber noch einholen. Am 25. Oktober reist Jesus mit seinen Löwen ins Estadio da Luz. Dann wollen die Adler ihren Judas noch einmal leiden sehen.

Jorge Jesus im Steckbrief