32 Millionen Euro ließ sich der VfL Wolfsburg im Winter 2015 die Dienste von Andre Schürrle kosten. Seitdem hinkt der Weltmeister den Ansprüchen hinterher. Im Interview vor dem Hinspiel im Champions-League-Achtelfinale bei KAA Gent (20.45 Uhr im LIVETICKER) spricht Schürrle über die anhaltende Kritik an ihm, das permanente Schwanken zwischen den Extremen, seine Probleme beim FC Chelsea und die Besonderheiten von Jose Mourinho.
SPOX: Herr Schürrle, Sie haben in der Bundesliga schon für drei Vereine gespielt, eine Auslandsstation hinter sich und sind Weltmeister geworden. Das ist für einen 25-Jährigen eine ganze Menge, oder?
Andre Schürrle: Wenn man auf meine bisherigen Stationen schaut und wie alles aufeinander aufgebaut hat, dann könnte das bei manchem in der Tat auch für eine gesamte Karriere reichen. Es ist in meiner Zeit als Profi schon extrem viel in kurzer Zeit passiert. Jeder Schritt, den ich gegangen bin, hat sich für mich richtig angefühlt. Wenn man solche für einen jungen Spieler seltenen Chancen bekommt, dann sollte man sie auch nutzen. Ich bin mit meinem Werdegang zufrieden.
SPOX: Wenn Sie Ihre Kumpels oder andere gleichaltrige Jungs sehen, erkennen Sie da Unterschiede zu sich?
Schürrle: Ich denke, dass man als Persönlichkeit einfach etwas schneller reift, wenn man bereits sehr früh alleine und dazu noch eine Zeit lang im Ausland lebt. Ich war gewissermaßen gezwungen, auf eigenen Beinen zu stehen. Auch Ereignisse wie die Teilnahme an einer Europa- oder Weltmeisterschaft bringen einen nicht nur sportlich, sondern auch charakterlich voran. Ich habe jetzt schon eine Menge unterschiedlicher Erfahrungen sammeln dürfen und mich dadurch vielleicht etwas zügiger entwickelt als andere meines Alters.
spoxSPOX: Wie sehr sehnen Sie sich nach zwei Jahren bei Bayer Leverkusen und eineinhalb beim FC Chelsea danach, dauerhaft für einen Klub zu spielen?
Schürrle: Jeder Fußballer träumt irgendwie davon, sehr lange bei einem Top-Verein zu spielen, von den Fans vollkommen anerkannt und das Gesicht des Klubs zu werden. Das ist sicherlich mehr als erstrebenswert. Ich möchte auch mal einen solchen Weg gehen, doch man sollte die einzelnen Entwicklungsschritte und Stationen nicht außer Acht lassen. Wenn man die Möglichkeit hat, sich sportlich zu verbessern oder einen Schritt zu wagen, der nicht alltäglich ist, dann wägt man ab und ergreift sie, wenn man wirklich überzeugt davon ist. So war es bei mir.
SPOX: Sie haben die Weltstadt London kennengelernt, derzeit lassen Sie sich auf das Kontrastprogramm in Wolfsburg ein. Was liegt Ihnen mehr?
Schürrle: Ich bin grundsätzlich schon ein Großstadtkind. Das Flair in London war überragend. Ich habe dort viele Freunde gefunden, vor allem viele Londoner. Zu Wolfsburg ist das natürlich ein Unterschied, aber das Ruhige und Idyllische gefällt mir auch ziemlich gut. Die Menschen hier sind extrem freundlich und man hat einen beinahe täglichen Austausch mit ihnen. Ich habe mich eigentlich überall immer relativ schnell heimisch gefühlt.
SPOX: Seit Ihrer Rückkehr nach Deutschland ist viel auf Sie eingeprasselt, die sportliche Leistungskurve hat ein paar Dellen abbekommen. Wie sehr wünschen Sie sich, dass wieder etwas mehr Normalität einkehrt?
Schürrle: Man will in erster Linie seinen Job gut erledigen. Dazu benötigt man im Idealfall eine gewisse Ruhe. Es ist schade, dass sich mittlerweile vieles nur noch in Extremen bewegt. Es gibt kaum noch Zwischentöne. Ich bin früh Nationalspieler geworden, die Augen waren schon immer auf mich gerichtet. Dass es dann in einem für mich extrem schwierigen Jahr wie 2015 auch Kritik hagelt, ist verständlich. Ich kenne es nicht anders und habe damit grundsätzlich auch kein großes Problem.
SPOX: Wieso gibt es denn in Ihren Augen diese Zwischentöne nicht mehr?
Schürrle: Das hängt wohl auch damit zusammen, was man bislang in seiner Karriere erreicht hat. Bei den Nationalspielern, die 2014 Weltmeister geworden sind, wird es wohl weiter zwischen den Extremen schwanken. Entweder Depp oder Held, um es mal salopp zu sagen. Dazwischen wird es nichts mehr geben. So ist leider das Geschäft und damit hat man als Profi einfach umzugehen. Das ist schade, aber machbar. (lacht)
SPOX: Ihr Mitspieler Max Kruse meinte nach Ihren beiden Treffern in der Champions League bei ZSKA Moskau, Sie hätten sich selbst ein bisschen in ein Loch geredet. Hat er damit Recht?
Schürrle: Ich weiß, was er damit meint. Wenn man mal ein paar Wochen schlechter spielt und es von außen Kritik gibt, dann redet man sich vielleicht auch bis zu einem gewissen Maß die Dinge selbst ein, die von den Medien kritisiert werden. Diese Gefahr besteht zumindest, da das alles natürlich nicht spurlos an einem vorbei geht.
SPOX: Ist es als Profifußballer überhaupt möglich, die Gedanken auszuschalten?
Schürrle: Da ist wohl jeder etwas anders. Manche juckt das alles gar nicht, die können in jeder Phase problemlos ihre Qualitäten auf den Platz bringen. Gerade die junge Spielergeneration ist in meinen Augen so gestrickt, dass sie sich mehr Gedanken macht, wie man sich in schwachen Phasen verbessern kann. Das ist an sich ja auch kein verkehrter Weg. Für mich war diese schwierige Zeit sehr lehrreich.
SPOX: Glauben Sie, die Kritik wäre grundlegend anders ausgefallen, wenn der VfL Wolfsburg nur ein Drittel der Ablösesumme für Sie gezahlt hätte?
Schürrle: Selbstverständlich. Ich selbst kann für die Ablöse ja nichts, aber ich habe die Erwartungen auch noch nicht erfüllt. Es gab in Deutschland noch nicht so viele Transfers dieser Größenordnung, man steht daher ganz anders unter Beobachtung und wird deutlicher wahrgenommen.
SPOX: Sowohl Trainer Dieter Hecking als auch Manager Klaus Allofs haben Sie öffentlich kritisiert. So etwas kommt in dieser Deutlichkeit selten vor. Wie haben Sie das aufgenommen?
Schürrle: Zunächst einmal hat man als Trainer und Manager natürlich das gute Recht, öffentlich zu kritisieren. Ich hätte mir allerdings interne Kritik gewünscht. Das habe ich Dieter Hecking und Klaus Allofs auch gesagt, wir haben darüber ausführlich gesprochen. Damit war die Sache auch erledigt.
SPOX: Sie kamen mit wenig Spielpraxis nach Wolfsburg, dazu wurde in England seltener trainiert. Waren Sie dennoch überrascht, dass Sie so schwer in Tritt kamen?
Schürrle: Ich hatte nicht erwartet, dass mir das so lange hinterher hängt - besonders, was die nötige Spielfitness angeht. Ich wollte in relativ kurzer Zeit viel aufholen, doch mir hat die Substanz gefehlt, diese neuen Belastungen auch sofort wegstecken zu können. Ich habe dann versucht, immer mehr zu machen, mich aber letztlich im Kreis gedreht.
SPOX: Zahlreiche deutsche Nationalspieler fielen nach der WM 2014 in ein Loch, was angesichts der kurzen Erholungspause auch nicht verwunderte. Sollte man den Rahmenterminkalender entzerren, da die Belastung der Spieler an ihre Grenzen stößt?
Schürrle: Es ist gerade für die großen Klubs, die dann auch lange im Europapokal vertreten sind und viele Nationalspieler stellen, fast schon zu viel. Es gibt kaum Pausen für die Spieler, besonders muskuläre Verletzungen häufen sich. Die Erholungszeit während der Sommerpause ist extrem eng bemessen. Da fällt es schwer, nach den monatelangen Belastungen ausreichend zu regenerieren - auch im Kopf, der eine wichtige Rolle spielt. Man sollte in Zukunft aufpassen, das Rad nicht noch immer weiter drehen zu wollen.
SPOX: Sie hatten besonders in Ihrer ersten Saison bei Chelsea sehr gute, nach der WM allerdings auch weniger gute Phasen. Woran hatten Sie in England am meisten zu knabbern?
Schürrle: Der Leistungsdruck war enorm hoch. Es gab diesen Kreislauf: Du stehst in der Startelf, machst du aber ein etwas schwächeres Spiel, dann sitzt du in der nächsten Partie fast hundertprozentig draußen und musst dich wieder herankämpfen. Zumal die Mannschaft in den meisten Fällen auch ohne dich gewinnen kann. Anfangs war es nicht ganz einfach, damit richtig umzugehen. Doch es treibt einen auch an.
SPOX: Sie haben schon viele Trainer in Ihrer Karriere erlebt, doch niemand kommt wohl an die schillernde Persönlichkeit Jose Mourinhos heran. Wie haben Sie ihn wahrgenommen?
Schürrle: Jose Mourinho ordnet dem Erfolg alles unter. Bei ihm weiß man zu jeder Zeit, was mit einem passiert. Die Rückmeldung ist super und immer transparent. Egal, was er tut: Er will aus seinen Spielern das Bestmögliche herausholen. Es ist nicht immer leicht, diesen Umgang auch für sich selbst zu nutzen, da man als Spieler in jeder Partie auflaufen möchte. Ich wusste aber schnell, dass er mich letztlich besser machen möchte.
SPOX: Er kann sicherlich auch sehr aufbrausend und bestimmend sein.
Schürrle: Natürlich, er ist der Boss und es geht nur nach seinen Regeln. Man muss seinem Weg bedingungslos folgen, aber er weiß einfach auch, wie man Spieler anzupacken hat. Das kann auch mal etwas kompliziert sein, doch man hat einen regen Austausch mit ihm und kann immer in sein Büro kommen. Ich habe mich oft mit ihm zusammengesetzt.
SPOX: Was macht denn in handwerklicher Hinsicht die Faszination des Trainers Mourinho aus?
Schürrle: Er ist sehr besessen von den taktischen Aspekten des Spiels. Wir haben ständig per Video, an der Taktiktafel oder auch auf dem Platz analysiert - sowohl unser eigenes Verhalten als auch das des nächsten Gegners. Besonders vor den großen Spielen war uns klar: Jetzt geht es rund, jetzt müssen wir zu 100 Prozent da sein, um seine Informationen aufzusaugen. Er hatte immer einen Plan, die Kontrahenten waren bis in den hintersten Winkel durchleuchtet.
SPOX: Welche Rolle spielte Mourinho denn bei Ihrem Wechsel von Leverkusen nach London?
Schürrle: Die ersten Kontakte gab es, als noch nicht klar war, dass er Trainer wird. Als das dann bestätigt war und er mich auch wollte, haben wir den Wechsel finalisiert. Aber ich wäre auch dorthin gegangen, wenn er nicht der Trainer geworden wäre.
SPOX: Welche Beziehung hatten Sie denn zu Klub-Eigentümer Roman Abramowitsch, ist er für einen Spieler überhaupt greifbar?
Schürrle: Nach den richtig wichtigen Siegen kam er in die Kabine und man hat ein bisschen Smalltalk gehalten. Er ist sympathisch und wirkt eher zurückhaltend.
SPOX: Mourinho wollte Sie eigentlich bei den Blues halten. Sie aber meinten, nicht mehr die volle Rückendeckung gespürt zu haben. Wieso?
Schürrle: Gerade gegen Ende meiner Zeit stand ich nicht häufig in der Startelf. Doch das war ja mein Anspruch. Ich habe daher die Chance gesehen, nach Deutschland in meine Heimat zu einem Verein zurückzukehren, der ein unglaublich interessantes Projekt gestartet hatte. Da wollte ich unbedingt dabei sein, zumal mir dann Chelsea auch keine Steine in den Weg gelegt hat.
SPOX: Wieso hatte sich Ihr Standing in London nach dem WM-Titel nicht derart verändert, dass Sie eine dominantere Rolle hätten einnehmen können?
Schürrle: Direkt nach der WM hat es sich schon extrem verändert. Im ersten Gespräch mit Jose Mourinho nach dem Titelgewinn meinte er, ich solle zusehen, in den nächsten zwei Wochen so fit zu werden, dass ich das erste Ligaspiel gleich von Beginn an absolvieren könne. Er hat auf mich gesetzt. Es hat dann auch super angefangen, ich habe gleich ein Tor geschossen und häufig gespielt. Ich konnte dann aber meine Leistung nicht halten. Fitness und Spritzigkeit haben gelitten, wohl auch aufgrund der kurzen Pause im Sommer. Dann trat wieder der Kreislauf ein, von dem ich vorhin gesprochen habe - und das wollte ich verändern.