Kleine Renaissance der Schachfiguren

Von Tim Schöfer
April 1999: Dynamo Kiew liefert dem FC Bayern im CL-Halbfinale einen großen Kampf
© imago

Unter Trainer-Legende Waleri Lobanowski erlebte Dynamo Kiew seine beste Zeit. Doch nach dem Halbfinale in der Champions League 1999 mussten die Fans 17 Jahre auf ein K.o.-Spiel in der Königsklasse warten. Unter Lobanowski ehemaligem Schützling Sergej Rebrov knüpft der Hauptstadtklub wieder an die erfolgreichen Jahre vor der Jahrtausendwende an. Gelingt im Achtelfinale gegen Manchester City (Mi., ab 20.45 Uhr im LIVETICKER) der Coup?

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Die Champions-League-Saison 1998/99 ist in Deutschland vielen Fans vor allem wegen des Finals in Erinnerung. Bayern-Fans werden den 26. Mai 1999 für immer hassen, Bayern-Gegner für immer lieben. Das 1:2 der Münchner gegen Manchester United gehört zum Grundwissen deutscher Fußballgeschichte.

Auch bei allen Fußballinteressierten der Ukraine ist das Frühjahr 1999 ein Begriff. Die Fans von Dynamo Kiew blicken voller Nostalgie auf jene Champions-League-Saison zurück.

Angeführt von Trainer-Legende Waleri Lobanowski drang Kiew bis in das Halbfinale der Königsklasse vor. Der größte Erfolg für den Klub aus der Hauptstadt - und für das ganze Land.

Urvater des modernen Fußballs

Lobanowski lief schon als aktiver Spieler für Kiew auf, wo er seine Karriere als Flügelstürmer begann. Insgesamt 144 Spiele machte er zwischen 1957 und 1965 für den Hauptstadt-Klub (42 Tore), mit 29 beendete er jedoch seine Spielerkarriere.

Ein Jahr später begann der gebürtige Kiewer seine Karriere als Trainer, heuerte zunächst bei Dnipro Dnipropetrovsk an, eher er vier Jahre später die Zügel bei Dynamo übernahm. Es sollte ein absoluter Glücksgriff für den Verein werden, der von 1974 an 17 Jahre mit Lobanowski, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, zusammenarbeitete.

Der Ukrainer, der nebenbei auch die Nationalmannschaft bei drei Turnieren betreute, durchbrach mit seiner Mannschaft die russische Dominanz im sowjetischen Fußball und führte sein Team zu acht Meisterschaften und sechs Pokalsiegen. Hinzu kamen zwei Titel im Europapokal der Pokalsieger sowie der Gewinn des europäischen Supercups. Viel mehr aber ist er der Urvater des modernen Fußballs.

Als erster europäischer Trainer überhaupt führte Lobanowski in den 1970er Jahren die Spielweise mit doppelter Viererkette ohne Libero ein. Viele Trainer, vor allem in Italien und Holland, nahmen den Kiew-Coach zum Vorbild und folgten seinem Beispiel. Unter anderem Arrigo Sacchi, der mit dem AC Milan zahlreiche Titel gewann. Auch Franz Beckenbauer zählt Lobanowskis Bewunderern.

Wie groß die allgemeine Wertschätzung für den Startrainer war, zeigte sich auch nach dessen Ableben. 2002 starb Lobanowski an den Folgen eines Schlaganfalls. Zu seiner Beerdigung kamen 200.000 Menschen.

Knallharter Schweiger mit Liebe für Cognac

Der große Schweiger, der lieber Co-Trainer zu Pressekonferenzen schickte und eine große Schwäche für Cognac hatte, verstand Fußball wie eine Wissenschaft. Lobanowski ließe eine Reihe von Wissenschaftlern jedes Detail des Fußballs analysieren. Er war besessen von der Systemlehre, Fußball betrachtete er als Schachspiel.

"Es war, als ob Lobanowskis Team 14 Spieler auf dem Rasen hatte. Sie bewegten sich wie Schachfiguren und von Hand gezogen über den Platz", sagte Ralf Rangnick einmal, nachdem er ein Spiel der von Lobanowski trainierten Sowjetunion gesehen hatte.

Lobanowski forderte bedingungslose Disziplin ein und ging bisweilen mit brutaler Strenge vor. Ukraines Fußballidol Oleg Blochin sagte einst über ihn: "Ich habe sehr von ihm profitiert. Aber er war knallhart. Mich verband eine Hassliebe mit ihm."

Neue Liga, alter Trainer

1990 endete die erfolgreiche Partnerschaft mit Dynamo allerdings, der Startrainer verließ Kiew und nahm das finanziell lukrative Angebot aus den Vereinigten Arabischen Emiraten an. Vier Jahre trainierte Lobanowski dort die Nationalmannschaft, ehe er in Kuwait ebenfalls als Nationaltrainer tätig war.

Währenddessen ereignete sich auch in Kiew einiges. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der damit einhergehenden Unabhängigkeit der Ukraine gründeten Dynamo und weitere ukrainische Vereine eine eigene Liga. Dynamo, Schachtjor Donezk und Dnipro sind die einzigen Vereine, die an allen Spielzeiten teilgenommen haben.

1992 fiel der Startschuss, am Ende unterlag Kiew im Finale gegen Tawrija Simferopol mit 0:1 im Finale um den ersten Titel. Die folgenden vier Meisterschaften gewann allesamt der Klub aus der Hauptstadt - jedoch ohne dabei zu glänzen. Und vor allem, ohne international zu überzeugen, nach einem Bestechungsskandal war der Verein sogar kurzzeitig gesperrt. Deshalb wurde am 1. Januar 1997 Lobanowski zurückgeholt. Mit ihm begann eine einzigartige Ära.

Zwischen Zweiklassengesellschaft und Träumen

"Wir hatten den äußerst glücklichen Umstand, dass drei Dinge zusammengekommen sind", erinnert sich Sergej Polkhovski, Vize-Präsident des Klubs in den späten 1990er Jahren. "Auf der einen Seite hatten wir eine großartige Generation mit Andrej Shevchenko, Oleg Luzhny und Sergej Rebrov, auf der anderen Seite hatten wir reiche Investoren. Und dazu kam Lobanowski." Fünfmal in Folge gewann er die Meisterschaft, Legenden-Status erreichte er aber durch seine Auftritte in der Champions League.

In seiner ersten Saison sorgte Lobanowski für das erste Ausrufezeichen, als Kiew direkt als Gruppenerster ins Viertelfinale marschierte. Es war das erste Mal, dass sich ein ukrainisches Team für die Endrunde der Champions League qualifizieren konnte. Im Viertelfinale gegen den späteren Finalisten Juventus Turin wurde der Traum jedoch mit einer 4:1-Klatsche im eigenen Stadion (1:1 in Turin) jäh beendet.

Doch in der kommenden Saison sollte die Truppe von Lobanowski die Leistungen aus dem Vorjahr noch toppen und dem Publikum im NSK Olimpijskyi denkwürdige Abende bescheren. Dabei wäre man in der Gruppenphase beinahe schon gescheitert, nachdem man keines der ersten drei Spiele gewinnen konnte. Doch nachdem die letzten drei Spiele allesamt gewonnen wurden stand man das zweite Mal in Folge als Gruppensieger im Viertelfinale. Ein Riesenerfolg.

Denkwürdige Nächte vor 81.500

Dort traf Kiew auf den amtierenden Titelverteidiger Real Madrid. Und Lobanowski hatte wie immer einen Plan parat. Dem 1:1 im Hinspiel in Madrid folgte die womöglich größte Sensation der Vereinshistorie. Shevchenko schenkte Reals Keeper Bodo Illgner zwei Tore ein und sorgre somit vor 81.500 ekstatischen Fans für den Einzug ins Halbfinale.

Es folgte eine weitere sagenumwobene Nacht, als der FC Bayern München in der ukrainischen Hauptstadt mit einem 3:3 den Grundstein für den Final-Einzug legte.

Dabei war Dynamo 90 Minuten lang brandgefährlich, führte bereits 3:1 und hätte Oliver Kahn nicht zwei, drei Mal in höchster Not gerettet, wären die Bayern schon nach dem Hinspiel praktisch draußen gewesen. Doch zwei direkte Freistoßtore durch Michael Tarnat und Stefan Effenberg und ein unnachahmlicher Carsten-Jancker-Treffer lieferten den Münchnern eine gute Ausgangsposition.

"Wir hatten genug gute Chancen, um das Hinspiel deutlich zu gewinnen. Leider haben wir versagt und unnötige Gegentore kassiert", blickt Shevchenkos damaliger Sturmpartner Rebrov wehmütig zurück. Das Rückspiel gewann die Bayern mit 1:0 und zogen ins Finale ein.

Für Kiew war es der bis heute letzte große Auftritt in der Champions League. Seitdem "sind viele Jahre vergangen, aber ich bin noch immer überzeugt, dass wir es verdient gehabt hätten, die Champions League zu gewinnen", sagt Rebrov. "Wir hatten großartig gespielt."

Endlich wieder großes Fußball-Kino

Mit Demut mussten die Anhänger in den folgenden Jahren ertragen, wie ihr Team Jahr für Jahr einen Schritt zurück machte. Bis Rebrov im April 2014 selbst die Zügel in die Hand nahm. Unter dem Rekordtorschützen der ukrainischen Premier League (123 Tore) blüht Kiew endlich wieder auf. Die Nummer eins heißt übrigens immer noch Alexander Shovkovski - mit 41 Jahren.

Nach fünf Donezk-Meisterschaften konnte Dynamo die Schale in der letzten Saison wieder in die Hauptstadt bringen. Auch in dieser Saison ist das Team von Rebrov extrem konstant, steht nach 14 Siegen, einem Unentschieden und einer Niederlage punktgleich mit Schachtjor an der Tabellenspitze.

Vor allem aber steht Dynamo 17 Jahre nach dem legendären Duell mit dem FC Bayern endlich wieder in der K.o.-Phase der Champions League. Dass man gegen Manchester City als krasser Außenseiter gilt? Geschenkt! Schließlich glaubte auch 1999 niemand, dass Kiew den Titelverteidiger Real Madrid schlagen könnte.

Auch werden keine 200.000 Menschen in das Stadion passen. Doch klar ist: Die 81.500, die im NSK Olimpijskyi Platz finden, werden ihren Verein mit Herz und Seele vorantreiben. Denn für die Fans zählt nur eines: Endlich wieder großes Fußball-Kino.

Dynamo Kiew in der Überesicht