Es ist der 26 Oktober 2005, 9. Spieltag in Italien. Francesco Totti bekommt den Ball kur vor der Mittellinie. Er lässt Cambiasso ins Leere grätschen. Er hüpft leichtfüßig, als ihn Ze Maria entschlossen attackiert. Unnahbar dribbelt er von der linken Außenlinie über den Rasen.
Kurz vor dem Strafraum versucht Marco Materazzi zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Er grätscht ins Leere. Nachdem er die gesamte Inter-Mannschaft zum Narren gehalten hat, vollendet Totti sein sekundenlanges Solo mit einem Heber aus 20 Metern oben rechts in den Winkel. Keine Chance für Keeper Julio Cesar. Was für ein Wahnsinnstor vom König von Rom! Es ist das 2:0 in einer Partie, die die Roma am Ende 3:2 gewinnen wird.
Die Römer Legende
Noch heute, mehr als zehn Jahre später, gilt der Treffer als einer der besten in der einzigartigen Karriere der Römer Legende. Ein Tor, das in Italien nur die ganz Großen erzielen - die Zehner, die falschen Neuner, die Baggios, die Del Pieros - die Tottis!
Der Ausnahmekönner spielte die zentrale Rolle bei seinem Klub seit den 1990er Jahren. Seit er in der Saison 1992/1993 sein Debüt gab, verzauberte er die Massen und bildete zusammen mit Gabriel Batistuta und Vincenzo Montella eines der gefürchtetsten Sturmtrios, das die Roma je sah.
Zur Krönung kam es in der Spielzeit 2000/2001. Die Roma holte ihren dritten Scudetto, den ersten seit den frühen 1980er Jahren. Spätestens da war Tottis Platz für die Ewigkeit gesichert.
In der Serie A TIM setzte er Maßstäbe und liegt aktuell bei 244 Toren. In der ewigen Torjägerliste steht nur noch Silvio Piola, der für den Stadtrivalen Lazio vor allem in den 1930er und 1940er Jahren erfolgreich war, vor ihm. Auf alle Wettbewerbe gerechnet, liegt Totti bei 299 Treffern. Der nächste wäre also ein ganz besonderer.
Verletzungen und Missverständnisse
Doch ob es dazu überhaupt kommt, ist fraglich. Eine Ära neigt sich dem Ende entgegen. Der König ist in die Jahre gekommen und hat seinen Sonderstatus eingebüßt. Dieser Tage scheint die Erinnerung an solche Momente das Einzige zu sein, was vom Ausnahmekönner übrig geblieben ist.
39 Jahre ist Totti mittlerweile alt. Nur sechs Ligaspiele stehen für ihn in der Saison 2015/2016 zu Buche. Zwei Mal durfte er von Beginn an ran, ein Tor gelang ihm. Mehr war nicht drin. Eine hartnäckige Verletzung am Beinbeugemuskel kostete ihn vier lange Monate.
Gegen Palermo Ende Februar sollte sein Comeback in der ersten Elf folgen. Trainer Luciano Spalletti hatte es auf einer Pressekonferenz angekündigt. Doch am Ende stand der Kapitän nicht einmal im Kader. Er hatte mit den Medien gesprochen und Dampf abgelassen.
"Einige Dinge, die Spalletti über mich gesagt hat, hätte er mir lieber ins Gesicht sagen sollen", ließ Totti eingeschnappt wissen. Überhaupt beschränkten sich seine Konversationen mit Spalletti nur noch auf "Guten Morgen" und "Guten Abend". Totti betonte: "Es ist mir und allem, was ich für die Roma getan habe, nicht würdig, meine Karriere auf diese Art zu beenden."
"Ziel sind Ergebnisse"
Der Trainer reagierte lapidar: "Mein Ziel sind Ergebnisse und ich stelle mein Team auf dieser Basis auf und nicht aufgrund der Historie eines Spielers." Klare Worte des Mannes, der Rom schon von 2005 bis 2009 trainiert hatte und damals ein sehr gutes Verhältnis zum König hatte - gezwungenermaßen. Damals führte kein Weg an Totti vorbei.
Der Erfolg jedenfalls gibt Spalletti Recht: seit er für den geschassten Rudi Garcia übernahm, gewann die Roma sieben der letzten neun Spiele in der Liga. Das Team steht auf dem dritten Platz, der die CL-Playoffs bedeuten würde.
"Großkotzig, aber sensibel"
Das Zerwürfnis mit seinem Trainer ist letztlich eine logische Konsequenz. Der Römer Monarch stand schon immer für Aussetzer. Zahlreiche Tätlichkeiten führten zu insgesamt zehn Platzverweisen. Die Auslöser waren Faustschläge, rüde Tritte oder das Spucken ins Gesicht des Gegners.
All diese Eskapaden wurden Totti stets verziehen, selbst die Medien fanden immer wieder charmante Wege, seine Taten zu erklären, zu beschönigen.
Der Schweizer Tagesanzeiger umschrieb diese Tendenzen treffend: "Diese Aussetzer, sie machten Totti in der Volksmeinung zu dem, was er ist. Einer von ihnen. Großkotzig, aber sensibel. Herzensgut, aber jähzornig. Theatralisch, aber einsilbig. Emotional und phlegmatisch zugleich. Ein Römer."
Letzter Auftritt auf großer Bühne?
Wie also schafft es Spalletti, das Ziel, die Champions League zu erreichen, mit einer gebührenden Abschiedstour für Totti - denn darauf läuft es hinaus - unter einen Hut zu bringen? Und will er das überhaupt? Der amerikanische Klubbesitzer James Pallotta hatte noch im Herbst verkündet: "Totti wird spielen, solange es sein Körper zulässt." Das war jedoch vor Spallettis Ankunft.
Siegt die Fußballromantik?
Was wird also aus Totti? Sind es wirklich die letzten Tage der Legende in der ewigen Stadt? Er könnte den einfachen Weg wählen und seine Karriere sauber beenden, anschließend ins Management wechseln, wo ihm ein Sechsjahresvertrag sicher ist.
Oder er könnte das Weite suchen. Einem alternden Star-Spieler bieten sich dutzende lukrative Möglichkeiten, um die Karriere ausklingen zu lassen. Nur ein Verbleib als Edelreservist scheint ausgeschlossen.
Letztlich muss sich Totti entscheiden, ob er die aussterbende Fußballromantik mit einem Ende bei seinem Klub ausleben will - oder lieber einen Umweg über China, die MLS, Katar nimmt, bis er dann wohl doch zu seiner Roma zurückkehren wird.
Francesco Totti im Steckbrief