Direktion mit Gottes Schlüssel

Seit seinem Amtsantritt am 23. Dezember 2011 holte Simeone im Schnitt 2,11 Punkte pro Spiel
© getty

Diego Simeone polarisiert - und er ist womöglich der einflussreichste Trainer Europas. Durch Manipulation hat er Abhängigkeit geschaffen, die ihn zum Heiligtum macht. Während der Profit des eigenen Teams immens ist, wird der Gegner mental zermürbt. Das sollen auch die Bayern im Halbfinal-Hinspiel der Champions League spüren (Mi, 20.45 Uhr im LIVETICKER).

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Genau auf diese Situationen hatten die Gäste aus Malaga gewartet. Atletico verlor in der Vorwärtsbewegung den Ball, die Malaguistas schalteten schnell um und stürmten unmittelbar vor der Halbzeitpause in einer Zwei-gegen-eins-Situation auf das Atletico-Tor zu.

Ricardo Horta war seinen Verfolgern an der linken Seitenlinie schon enteilt, als aus Richtung der Atletico-Ersatzbank plötzlich ein zweiter Ball aufs Spielfeld flog - genau in den Lauf des Malaga-Spielers. Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz ließ zunächst weiterspielen, der Angriff brachte den Gästen aber nichts ein. Zu groß waren die Irritationen, für die der Vorfall bei den Spielern gesorgt hatte.

Nach der Szene eilte Lahoz an die Seitenlinie. Zielstrebig schnappte er sich Atleticos Trainer Diego Simeone und verbannte ihn nach einem kurzen Wortgefecht auf die Tribüne. Hatte der Coach den Ball geworfen?

"Ein Balljunge neben unserer Trainerbank war es", berichtete Simeone nach dem Spiel. TV-Bilder deuten allerdings darauf hin, dass der Junge auf Anweisung des Trainers gehandelt haben könnte. Der Schiedsrichter begründete seine Entscheidung damit, dass Simeone der Verantwortliche für das Geschehen an der Trainerbank sei. Der räumte ein: "Die Entscheidung des Referees war korrekt."

Beispiellose Abhängigkeit

Diese Szene vom vergangenen Wochenende sagt viel über Diego Pablo Simeone aus. In der Tat illustriert sie seine Verhaltensmuster am Spielfeldrand wirklich sehr gut. Wer den heißblütigen Argentinier bereits das eine oder andere Mal gesehen hat, war über diesen Eklat nicht einmal überrascht.

Der Trainer ist anders als die meisten, das ist klar: Er eckt an, brüllt, lamentiert und geht immer wieder auf den Gegner los. "Provokant" ist daher ein Attribut, das zur Beschreibung von Simeone fast schon zu weich wirkt. "Das ist sein Lebensstil, so war er schon als Spieler. Es ist der dominanteste seiner Charakterzüge", sagt Luis Aznar, Atletico-Redakteur bei der Marca, gegenüber SPOX.

Und doch wäre es zu einfach - und schlichtweg falsch -, Simeones Charakter auf Unsportlichkeit herunterzubrechen. "Ich würde es aber nicht als unfair bezeichnen. Er versucht mit dieser Art, seinen Spielern zu helfen. Für die Mannschaft ist es ein Pluspunkt, er ist sozusagen der zwölfte Mann auf dem Platz", bestätigt Aznar.

"Er manipuliert ihren Verstand"

Seit der Saison 2011/12, in der Simeone den Trainerposten in Madrid übernahm, führte er sein Team zu einem Europa-League-Titel, einer Meisterschaft und in ein Champions-League-Finale. Er hat sein perfektes Team geformt - weil er wie kaum ein anderer Trainer die Fähigkeit hat, einen solchen Einfluss auf seine Mannschaft zu nehmen, dass sie zum Ebenbild der eigenen Vorstellungen wird.

Schöner Fußball, wie Pep Guardiola ihn manifestiert, gehört nicht zu dazu: "Ihre Ideen vom Fußball sind komplett gegenteilig. Für seine Art, spielen zu lassen, hat er genau die richtigen Spieler bei Atletico. Idee und Akteure passen perfekt zusammen. Er schafft es, die Gedanken der Spieler zu beeinflussen. Er manipuliert ihren Verstand, um sie für seine Zwecke einzusetzen. Ihm ist es auch egal, ob der Spieler Griezmann, Diego Costa oder Fernando Torres heißt. Ein Name ist für ihn nur ein Name, mehr nicht", sagt Aznar.

Der Trainer lässt seinen kompromisslosen Defensivfußball spielen, bringt seine Spieler bis in die Haarspitzen auf Linie, jeder zerreißt sich für jeden. 16 Gegentore in 35 Ligaspielen und fünf in der Königsklasse sprechen eine deutliche Sprache. Weniger egal als Ballbesitz ist dem 45-Jährigen auf dem Platz vielleicht nur sein öffentliches Image.

Einfluss reicht bis zum Gegner

Doch Simeones Einfluss reicht weiter als nur bis zum eigenen Team. Unabhängig von Stadion-Atmosphäre und Spielverlauf geht das Tun des Trainers nur selten an den gegnerischen Spielern vorbei: "Er ist eine riesige Unterstützung für das Team, mit großer Leidenschaft. Er sorgt dafür, dass im Calderon immer eine hitzige Stimmung herrscht", sagte entsprechend auch Bayerns Xabi Alonso auf SPOX-Nachfrage beim UEFA Media Day an der Säbener Straße.

Simeone trägt den Spitznamen "El Cholo". Es ist ein Latino-Slangausdruck für Menschen mit indigenen Wurzeln, den die meisten Argentinier wohl als Beleidigung empfinden würden. Nicht so Simeone: Er trägt ihn voller Stolz vor sich her. "Cholismo bedeutet einfach, dass man an den Erfolg glaubt, wie man an seinen Gott glaubt. Und von meinen Mitspielern und Spielern erwarte ich, dass sie mir in diesem Glauben folgen. Denn genau darum geht es beim Fußball", sagte Simeone einmal.

"Natürlich stimmt Simeone seine Mannschaft immer extrem ein. Er ist ein Kämpfer-Typ. Gegen so eine Mannschaft zu spielen, ist sehr schwierig", fügte Juan Bernat zu Alonsos Aussage hinzu. Beide standen dem Coach mit ihren ehemaligen Mannschaften schon auf dem Platz gegenüber. Sie wissen, was im Halbfinal-Duell mit Atletico auf sie zukommt.

Das betrifft vor allem das Hinspiel in Madrid: "Die Fans sind sehr speziell, sie sind sehr leidenschaftlich und leben für ihren Verein und Trainer. Die Stimmung dort ist immer sehr gut, das wird auch dieses Mal so sein", kündigt Alonso an.

Strategie: Direktion mit Gottes Schlüssel

Speziell vor den eigenen Zuschauern wird Simeones Macht bei Atletico nämlich besonders deutlich. "Im Vicente Calderon sieht man immer wieder, wie er die Fans auf den Rängen dirigiert. Hebt er seine Arme, stimmen alle Zuschauer mit ein und singen noch lauter", beschreibt Aznar, der beteuert, dass es schwer sei, sich selbst als neutraler Beobachter nicht davon beeinflussen zu lassen.

An dieser Stelle wird klar, wie viel Strategie hinter Simeones Auftreten eigentlich steckt: "Damit hilft er seinen Spielern ungemein. Natürlich ist er ein Showmensch, aber er ist unfassbar organisiert. Egal wo er sich aufhält, er hat immer einen genauen Ablaufplan, eine Abhandlung, wie Dinge laufen sollen. Das ist im Pressesaal so, genauso wie in der Kabine oder auf der Trainerbank. So schafft er es, alles perfekt umzusetzen", so Aznar.

Entsprechend ist Simeones Wert für den gesamten Klub unermesslich: "Für seine Spieler und auch die Fans ist er mehr als nur ein Coach. Er ist Gott. Im Verein entscheidet er alles, er hat den Schlüssel zu allen Räumlichkeiten und bildlich gesprochen auch den Schlüssel zum Herzen des Klubs. Alle sind glücklich und hochzufrieden mit ihm, zumal es sportlich ja auch richtig gut läuft. Er ist der beste Coach, den Atletico haben könnte."

Bei den Bayern versucht man, wenig Worte darüber zu verlieren: "Wir sollten uns davon aber nicht ablenken lassen. Wichtig für uns ist, was auf dem Platz passiert", findet Alonso. Genau das wird Simeone versuchen zu steuern.

Diego Simeone im Steckbrief