"Real-Fan sein bringt dich nicht weiter"

Frank Oschwald
27. Mai 201618:32
Atleticos Gabi feierte 2014 die Meisterschaft am berühmten Neptuno-Brunnen in Madridgetty
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Miguel G. Vizcaino ist Kreativdirektor der Werbeagentur Senora Rushmore und Vater zahlreicher viraler Marketing-Clips über Atletico Madrid. Im Interview spricht er über die Entstehung und Ziele seiner Videos, den Mythos Atleti und das Erfolgsrezept von Diego Simeone.

SPOX: Herr Vizcaino, Ihre Atletico-Videos sind in Spanien ein Hit. Erinnern Sie sich noch, wann Sie die Idee für die kurzen Clips hatten?

Miguel G. Vizcaino: Klar, das vergisst man nicht so schnell. Jedes einzelne Video und jeder einzelne Entstehungsprozess bleibt einem im Gedächtnis. Vor allem, da wir in der Marketingagentur allesamt große Atletico-Fans sind und jeder Clip sich auf einen ganz konkreten Moment in der Geschichte des Klubs bezieht - ganz unabhängig davon, ob es bei uns gerade gut oder schlecht läuft. Die Videos spiegeln deshalb immer gut wider, was wir an diesem Tag gefühlt haben.

SPOX: Was ist das genaue Ziel der Clips?

Vizcaino: Viele denken immer, dass wir damit neue Mitglieder gewinnen wollen. Aber das ist überhaupt nicht der Hintergedanke. Wir wollen der Welt die Marke und das Gefühl Atletico vermitteln. Deshalb richten wir uns nicht nur an Atletico-Fans, sondern auch an Fußball-Liebhaber und eben die breite Öffentlichkeit. Wir haben beispielsweise schon von Leuten Glückwünsche erhalten, die den Fußball nicht mögen, denen unsere Videos aber ans Herzen gegangen sind. Es geht ja in den Clips nicht ausschließlich um den Sport, sondern immer auch um das Leben.

SPOX: Das klingt romantisch. Aber was zieht der Klub für einen Nutzen daraus?

Vizcaino: Ziel ist es, dass Leute Sympathien für Atletico entwickeln. Dadurch bindest du Fans an deinen Klub. Diese Beziehung ist speziell dann wichtig, wenn es mal nicht so gut läuft. Wenn dein Team erfolgreich ist, ist ja sowieso alles gut. Aber den Spirit auch am Leben zu erhalten, wenn die 2. Liga ruft oder die Mannschaft nur Zehnter ist, ist enorm schwierig.

SPOX: Wie kam es zur Partnerschaft mit Atletico?

Vizcaino: Meine Frau und ich haben im Jahr 2000 unsere eigene Firma gegründet und Atletico war der erste Kunde, den wir hatten. Diese Beziehung mit dem Verein seitdem hinweg stets enger geworden und heutzutage einfach nur fantastisch. Wir sind in ständigem Austausch mit Emilio Gutierrez, dem Marketing-Chef des Klubs. Er hat ein unheimlich gutes Gespür für den Moment. Das hilft uns auch bei unseren Videos.

"Papa, warum sind wir eigentlich Atletico-Fans?" - Es ist nicht einfach zu erklären. Denn es ist etwas sehr, sehr Großes.

SPOX: In einem Ihrer Videos fragt ein kleines Kind seinen Vater, warum die ganze Familie eigentlich Atletico-Anhänger sei. Der Vater weiß keine Antwort. Wie erklärt man seinem Sohn, dass man Fan einer unterlegenen Mannschaft ist?

Vizcaino: Ja, das ist alles andere als einfach. Dein Klub gewinnt keine Titel und die anderen stauben einen Pokal nach dem anderen ab. Das verstehen Kinder in jungen Jahren nicht. Wenn die Kids jedoch älter werden, fangen sie an, es zu verstehen. Du bist ganz einfach für den Klub, der deine Wesensart am besten repräsentiert und mit dem du dich am besten identifizieren kannst.

SPOX: Wie entstand der Clip?

Vizcaino: Dieses Video wurde 1999 gedreht. Real Madrid hat zu dieser Zeit gerade mit den Galaktischen die Champions League gewonnen und Atletico ist in die 2. Liga abgestiegen. Keine einfache Zeit für uns. Unser Sohn dankt uns heute noch dafür, dass wir diesen Clip gedreht haben. (lacht)

SPOX: In Spanien sind generell verhältnismäßig viele Fußball-Fans Anhänger von Real und Barca. Haben es kleine Teams schwerer?

Vizcaino: Das ist richtig. Es ist hier nicht wirklich verbreitet, Anhänger einer schwächeren oder unterlegenen Mannschaft zu sein. Das war eigentlich schon immer so. In England ist das anders. Da muss man sich nur mal die Fans von Leeds anschauen. In Spanien gibt es ja beispielsweise auch Fans, die zwei Vereine haben: einen "kleinen" Klub und Barca oder Real.

Atletico macht dich stärker.

SPOX: Wäre es möglich, die Videos zu machen, ohne Atletico-Fan zu sein?

Vizcaino: Niemals! Das Schöne an den Clips ist, dass man in jeder Sekunde die Emotionen spürt. Wir wissen, was der Atletico-Fan denkt und fühlt, wenn er die Videos sieht. Das macht sie so besonders.

SPOX: Angenommen Real Madrid kommt morgen ums Eck und legt Ihrer Firma für ein Video fünfmal so viel Geld auf den Tisch wie Atletico. Würden Sie ins Zweifeln kommen?

Vizcaino: Die Frage höre ich in Spanien auch immer wieder und wir beantworten sie immer gleich: Nein! Vermutlich würde aber Real auch nie auf die Idee kommen, an unserer Türe zu klopfen. Sie würden die Antwort schon kennen.

SPOX: Selbst aus deutscher Sicht ist Atletico ein sehr spezieller Klub. Woher kommt das?

Vizcaino: Ein Hauptgrund dafür ist sicherlich der Standort. Atletico kommt nun mal aus der gleichen Stadt wie Real Madrid und muss somit an der Seite des erfolgreichsten Klubs der Welt leben. Auch deshalb hat der Verein den Ruf des Verlierers. Dabei sind wir derzeit die dritte Kraft in Spanien und es gibt alleine in La Liga 17 schlechtere Teams. Den Stempel schleppen wir dennoch mit uns rum. Um dies zu kompensieren, brauchst du sowohl als Spieler als auch als Fan eine besondere Einstellung. Das CL-Halbfinale gegen die Bayern ist ein gutes Beispiel. Dieses Spiel war bis zur letzten Minute ein richtiger Fight. Wir haben nicht die Voraussetzung wie andere Klubs. Deshalb müssen wir mehr geben als alle anderen. Diese Kämpfereinstellung und dieser Spirit haben uns ins Finale gebracht und unterscheiden uns von zahlreichen anderen Klubs.

SPOX: Ist das auch ein Grund für die Feindschaft zwischen Real und Atletico?

Vizcaino: Eine Rivalität zwischen zwei Teams aus der gleichen Stadt ist normal. Bei Atletico und Real ist es etwas Besonderes, da die Königlichen fünfmal größer sind, mehr TV-Einnahmen bekommen, bessere Voraussetzungen und mehr Fans haben. Das ist dann noch mal etwas anderes.

(Vor dem EL-Final gegen Fulham und dem Pokalfinale gegen Sevilla)

Derzeit hat jeder einen Traum. Den alten Traum, nach den Sternen zu greifen. Weil wir es verdient haben. Das Problem ist, dass diesen gleichen Traum tausende von Engländern und tausende von Sevillistas haben. Was wir allerdings wissen: Wir träumen viel stärker. Mit allem, was wir haben.

SPOX: Gibt es Unterschiede in der Persönlichkeit zwischen Real- und Atletico-Fans?

Vizcaino: Absolut. Ich glaube, dass ein Anhänger von Atletico eine stärkere Persönlichkeit hat. Ein Anhänger von Real kann jeder sein. Das ist herzlich einfach und bringt dich nicht weiter. Hingegen Altetico-Fan zu sein, bedeutet für viele Menschen alles. Man wählt bewusst nicht den einfachen Weg. Du weißt, dass du vermutlich nicht das Triple holen wirst, aber aufgeben wird nicht in deinem Wortschatz auftreten.

SPOX: Ganz so schlimm steht es aktuell um Atletico allerdings nicht. Wie haben Sie die letzten Jahre verfolgt?

Vizcaino: Sie waren natürlich wunderschön. Wir sind derzeit so gut wie noch nie in der Geschichte des Klubs. Cholo Simeone hat den Verein von einem "Beautiful Loser" in einen "Glorious Fighter" verwandelt. Und das, mit einem Kader voller guter, aber keineswegs außergewöhnlichen Spielern. Simeone hat es jedoch geschafft, dass die Spieler glauben, dass sie außergewöhnlich sind und gegen jede Mannschaft der Welt gewinnen können. Nur so haben wir La Liga gewonnen und waren bereits 2014 im Finale der Champions League. Seit Cholo da ist, hat sich die Zielsetzung des Klubs verändert. Oder wie Cholo sagt: "Si se cree, se puede" ("Wenn sie dran glauben, schaffen sie es", d. Red.).

SPOX: Atletico zeichnet sich vor allem durch die Spielweise aus. Könnte der Klub auch einen anderen Stil spielen?

Vizcaino: Unser Stil ist schon seit Jahrzehnten geprägt durch schnelles Kontern. Diego Simeone hat diesen Stil zu einem Gesetz gemacht. Die Rechnung ist eigentlich ganz einfach. Wenn man Spieler wie Barca oder Bayern hat, ist es durchaus möglich, auf Ballbesitz zu spielen. Wir haben andere Voraussetzungen und müssen deshalb mit unseren eigenen Waffen kämpfen: Pressing, Kampf, wir müssen enge Zweikämpfe gewinnen, den Mitspieler unterstützen und eben ordentlich kontern. Würde Simeone Barca oder Bayern coachen, würde er ja auch nicht auf Konter spielen.

SPOX: Passt Cholo Simeone mit seinem Rambo-Image perfekt zu Atletico?

Vizcaino: Für mich ist Simeone der beste Trainer der Welt. Das ist unabhängig davon, ob er die Champions League gewinnt oder nicht. Das Wichtigste bei einem Coach ist doch, was er aus den Spielern macht. Und das ist bei ihm schlichtweg beeindruckend. Er hat den Spirit und die Art und Weise verändert, wie die Elf auftritt. Ich kann mir derzeit keinen anderen Trainer vorstellen.

SPOX: Für viele ist Fußball wie eine Religion. Können Sie uns als Experte für Emotionen und Leidenschaft das erklären?

Vizcaino: Das ist nicht möglich, glaube ich. Es gibt schlichtweg keine logische Erklärung dafür. Viele Menschen spüren an keinem anderen Ort der Welt eine solch starke Freude und manchmal ein solch starkes Leid. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich die Zugehörigkeit. Man ist Teil einer Gruppe oder einer Familie und leidet mit dieser. Ich habe Freunde, die Wissenschaftler und gleichzeitig Atletico-Fans sind. Auch sie können diesen Irrsinn und die Leidenschaft nicht erklären.

SPOX: Abschließend noch ein Tipp fürs Finale am Samstag. Wie geht das Spiel aus?

Vizcaino: Ganz klar: Atletico gewinnt 2:0. (lacht)