"Einen Deutschen bräuchte ich nicht"

Stefan Zieglmayer
23. Januar 201808:54
Der Atletico-Fanklub "Pena Atletica Centuria Germana" zählt mehr als hundert Mitgliedertwitter
Werbung

Andre Kahle ist der Präsident des ersten deutschen Atletico-Fanklubs "Pena Atletica Centuria Germana" (Die deutsche Hundertschaft). Der Hannoveraner spricht im Interview über die Wahrnehmung des Vereins, unfaire Berichterstattung und erklärt Parallelen zu Schalke 04 oder 1860 München.

SPOX: Eine zehn Jahre alte Werbung zeigt folgendes Szenario: Ein kleiner, neugieriger Junge fragt seinen Vater: Porque somos del Atleti? Warum sind wir Atletico-Fans? Dem fällt keine schnelle Antwort ein.

Andre Kahle: Das war damals nach dem Wiederaufstieg nicht einfach zu erklären. Atletico war fernab von Erfolg. In Madrid spielten die Galaktischen. Warum sollte man als Kind Fan von Atletico werden?

SPOX: Ja, warum?

Kahle: Dieses Gefühl. Man kann es nicht erklären. Der einfache Weg war Real oder Barca. Heute haben die Kinder Atletico-Rucksäcke, Trikots und Federmäppchen. Heute ist der Klub eben erfolgreich. Dennoch ist es immer noch etwas Besonderes, Atletico-Fan zu sein.

SPOX: Heute kommen solche Fragen also nicht mehr vor?

Kahle: Was heute wichtig ist, um junge Fans dazu zu gewinnen, ist ein FIFA-Cover, eine gute FIFA-Mannschaft und eine regelmäßige Champions-League-Teilnahme. Aber Atletico ist mehr. Damals waren die Anhänger noch Sufridores, also Leidende. Es steckt eine große Geschichte hinter dem Verein. Atletico ist ein Gefühl.

SPOX: Spanische Atletico-Fans sind nachvollziehbar. Meist ist die Heimatstadt der Lieblingsverein. Wieso ist es bei Ihnen nicht Hannover 96?

Kahle: Ich bin in der 3. Liga mit Hannover herumgereist. Ich habe Städte gesehen, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Mein Heimatverein ist Hannover 96, aber der Verein meines Herzens ist Atletico geworden. Diese Herzlichkeit, diese Offenheit, diese Stimmung. Das kannte ich nicht. Ich bin vom "virus rojiblanco" infiziert.

SPOX: Als Deutscher.

Kahle: Haben Sie eine Frau? Da ist es genauso. Sie können einzelne Sachen sagen. Sie sieht gut aus, ist hochintelligent, erfolgreich. Aber Sie können nicht sagen, warum Sie genau diese Frau lieben. So ist es mit dem Verein auch. Atletico ist ein bisschen wie Schalke. Man kann nicht ganz erklären warum, aber wenn man Fan ist, ist man Fan.

SPOX: Der Verein ist Ihre Frau?

Kahle: (lacht) Das ist natürlich nicht zu vergleichen mit der Liebe zu einem Menschen. Aber es ist ein Hobby. Und da braucht es tatsächlich erstmal eine verständnisvolle Ehefrau, die von Fußball wenig Ahnung hat und kein Interesse daran zeigt. Aber die trotzdem die Toleranz mitbringt.

SPOX: Hat Sie die Hingabe zum Klub in anderen Lebensbereichen schon mal eingeschränkt?

Kahle: Nein. Ich richte mein Leben relativ stark nach meiner persönlichen Zufriedenheit aus. Da achte ich schon darauf, alles unter einen Hut zu bringen. Ich bin Lehrer. Da gibt es keinen Urlaub in dem Sinne. Aber ich habe einen sehr verständnisvollen Schulleiter. Dennoch: 2014 musste ich nach Lissabon ins Champions-League-Finale. Hätte ich nicht frei bekommen, hätte ich gekündigt.

SPOX: Zwischen Ihrem Wohnort Detmold und dem Vicente Calderon liegen 1605 Kilometer Luftlinie. Wie oft waren Sie schon im Stadion?

Kahle: So toll es da auch ist, habe ich das Stadion in den vergangenen Jahren eher selten gesehen. Das liegt daran, dass Atletico so erfolgreich ist. Unser Hauptaugenmerk liegt also auf den Auswärtsspielen. Aber wenn beispielsweise der Hauch einer Chance auf den Meistertitel besteht, muss ich runter.

SPOX: Was zeichnet Atletico als Mannschaft aus?

Kahle: Partido a partido - Spiel für Spiel. Und natürlich eine Geschlossenheit, die ich bisher bei keiner Mannschaft in Europa so gesehen habe.

SPOX: Stichwort Geschlossenheit. Atletico ist gefürchtet für die überragende Defensivarbeit. Da bleiben offensive Kunststücke oft aus. Ist es nicht schwierig, einen Verein zu lieben, der solch einen Fußball spielt?

Kahle: Die Spielweise ist defensiv ja, aber dennoch taktisch hoch interessant. Außerdem sind immer schöne Konteraktionen dabei. In der Meistersaison von 2014 endeten viele Spiele mit 1:0. Oft wurden diese Partien auch noch durch Standards entschieden. Das ist jetzt nicht so spannend. Aber gerade Tore eines Griezmann oder jetzt von Saul sind einfach schön.

SPOX: Sie haben Atletico einst mit 1860 München verglichen. Das müssen Sie uns erklären.

Kahle: Ja. Aber das hat nichts mit spielerischer Klasse zu tun. (lacht) Vielmehr geht es dabei um das Ansehen von Atletico im Vergleich zu Real in der Stadt. Das kann man ein bisschen mit Bayern und 1860 vergleichen. Damals war es so, dass der TSV in München sehr beliebt war, Bayern dagegen eher außerhalb. So ähnlich ist es in Madrid.

SPOX: Wie viele Atletico-Fans gibt es denn in Deutschland? Wie entwickelt sich das Fanpotenzial hier?

Kahle: Das ist schwer abzuschätzen. Wir zählen im Moment etwa 100 Mitglieder. Das sind auch meist Deutsche. Aber auch hier ansässige Spanier oder Atletico-Sympathisanten melden sich bei uns.

SPOX: Eines der Ziele des Fanklubs ist die "Unterstützung des Vereins Atletico Madrid". Wie sieht das aus?

Kahle: Wir verwalten im Prinzip die europäischen Fanklubs mit. Wenn Freunde aus Polen, Belgien usw. anfragen, besorgen wir denen auch Karten. Die Unterstützung bezieht sich also nicht nur auf das Anfeuern im Stadion, sondern bringt viel strukturelle Arbeit mit sich.

SPOX: Kommt vor einem CL-Spiel gegen eine deutsche Mannschaft speziell viel Arbeit auf sie zu?

Kahle: Ja. Ich gucke mir das Spiel natürlich an, aber mein Tag beginnt relativ früh und endet sehr spät. Zwischendrin darf ich 90 Minuten Fußball schauen. Aber es treten immer wieder Probleme auf. Da kommen 1000 Sachen auf einen zu.

SPOX: Wie oft meldet sich der Verein direkt beim Fanklub? Wie funktioniert die Kommunikation?

Kahle: Wir stehen wöchentlich ein bis zwei Mal in Kontakt. Da geht es dann um Banales wie Autogrammkarten, aber auch darum, Kontakte herzustellen.

SPOX: Kennt man Sie dadurch in Madrid?

Kahle: Ja. Der Fanklub ist bekannt wie ein bunter Hund. Natürlich sind wir auch etwas Besonderes, weil wir Ausländer sind. Und mit der Zeit entstehen dann tatsächlich Freundschaften. Das ist nicht nur so dahin gesprochen. Wir sind wirklich eine rot-weiße Familie.

SPOX: Kennen Sie den Film "Hooligans"?

Kahle: Vom Namen her ja. Und ich weiß, dass der Eine von Herr der Ringe (Elijah Wood, Anm. d. Red.) da mitspielt. Den Film habe ich selbst nie gesehen. Ich habe meine Probleme mit der "Fankultur" Hooligans und Ultras. Was das mit Leidenschaft zum Fußball zu tun haben soll, ist mir nicht ganz klar. Die sollen das alles machen, aber bitte nicht im Stadion.

SPOX: Kommen wir also zum Sportlichen. Atletico galt lange als das Sprungbrett für aussichtsreiche Stürmer-Talente. Der Trend scheint dahin zu gehen, dass genau diese Spieler wieder zurückwollen. Woran liegt das?

Kahle: Das ist jetzt keine Fußballromantik, aber ich denke, Atletico ist einfach ein besonderer Verein. Jeder, der sich mit dem Verein identifiziert hat, lernt schnell, dass man zwar woanders mehr Geld verdient, aber man mit dem Herzen nicht so dabei ist wie bei Atletico. Es scheint den Spielern ein Bedürfnis zu sein.

SPOX: Und darüber hinaus sind die Rojiblancos noch erfolgreich. Würden Sie sagen, dass es keine spanischen Verhältnisse mehr gibt?

Kahle: Atletico ist die Nummer eins in Spanien. Barca und Real kann man nicht zählen, die spielen in einer anderen Welt. Überraschungserfolge sind zwar immer wieder möglich, aber was bei den beiden Teams im Kader steckt, ist von einem anderen Stern. Da kann Atletico nicht mitziehen. Das Ziel muss Platz drei sein, also die sichere Champions-League-Teilnahme.

SPOX: Eine vergleichbare Dominanz hat sich der FC Bayern in den vergangenen Jahren in Deutschland verstärkt aufgebaut.

Kahle: Was wir komplett vergessen ist, dass die Bundesliga im Vergleich zur Primera Division eine krasse Klasse schlechter ist. Bayern ist die volle Ausnahme. Aber die spielerische Qualität der Bundesliga ist schlecht. Ich würde sogar sagen, dass jede der drei besten spanischen Mannschaften in Deutschland Meister werden könnte. Dagegen würde es der FCB in Spanien schwer haben.

SPOX: La Bestia Negra wurde international - gerade von den spanischen Teams - ein wenig gezähmt. Hilft es, dass man Pep Guardiola in der Primera Division so gut kennt?

Kahle: Gute Frage. Ich muss sagen, ich verstehe Guardiola nicht. Wenn du nach Madrid fährst und den Spielstil von Atletico kennst, dann aber einen Thomas Müller - vorausgesetzt er ist fit - auf der Bank sitzen hast ... aber mir soll es Recht sein. (lacht)

SPOX: Vor welchem Münchener Spieler hat man bei Atletico am meisten Respekt?

Kahle: Atletico hat keine Angst vor dem Kader oder einzelnen Spielern der Bayern, aber vor der Geschichte des Klubs. Respekt ist übrigens ein guter Punkt. Vielen deutschen Mannschaften, Funktionären und der Medienlandschaft fehlt dieser - gerade gegenüber Atletico. Wie diese Ballwurf-Affäre um Diego Simeone "hochsterilisiert" wurde, war eine Frechheit.

SPOX: Würde ein deutscher Spieler im Atletico-Trikot eine solche Berichterstattung beeinflussen?

Kahle: Ja! Würde Toni Kroos bei Atletico spielen, läse man solche Aussagen nicht. Man würde Simeone als großen Motivator beschreiben, nicht als unsportlich. Guardiola verhält sich genauso temperamentvoll. Ihm wird es nur nicht negativ ausgelegt.

SPOX: Was ist Ihr abschließender Tipp?

Kahle: Um Atletico zu besiegen, muss Bayern drei Tore schießen oder mit einem 1:0 durch die Verlängerung. Mir ist aber auch klar, dass wir eine Menge Glück brauchen.

SPOX: Ihr Traumszenario sieht also folgendermaßen aus: Atletico kommt mit etwas Glück gegen den FC Bayern ins Finale und besiegt dort Real Madrid. Mit dem CL-Titel werden deutsche Stars angelockt und die Berichterstattung schwenkt ins Positive.

Kahle: Einen Deutschen bräuchte ich nicht. Mein Traumszenario sieht so aus: Atletico kommt gegen die Bayern weiter und zeigt ein faires, sauberes sowie hochklassiges Spiel. Dann kommt das Finale gegen Real Madrid und wir gewinnen in der 92. Minute mit 1:0 durch einen ungerechtfertigten Elfmeter. So ungerechtfertigt wie selten zuvor, quasi Schutzschwalbe Vidal und Möller zusammen. Das wär's (lacht).

Alles zum Halbfinale der Champions League