So geht es also auch. Thomas Tuchel saß zufrieden auf dem Podium des Dortmunder Presseraums und sprach von einer "starken Phase", in der sich sein Team derzeit befinde. Zuvor war es beim reichlich effektiven 6:2-Heimsieg 20 Mal von Bayer Leverkusen gefoult worden.
Im Hinspiel, Dortmund verlor 0:2, beging die Werkself ein Foulspiel mehr. Tuchel echauffierte sich anschließend aber derart vehement über die Gangart des Gegners, dass er große Mühe hatte, sich in den Folgewochen aus dieser selbst angezettelten Diskussion zu befreien.
Damals Anfang Oktober kassierte der BVB die zweite Saisonniederlage im sechsten Bundesligaspiel. Beide kassiert gegen wild und tief pressende Mannschaften, die mit dieser Spielweise Dortmunds Spielaufbau scheinbar mühelos aushebelten.
In 2017 alles wieder halbwegs im Lot
In Leverkusen begann somit der erste leichte Durchhänger einer Spielzeit, die seitdem von Höhen und Tiefen sowie zahlreichen (Personal-)Debatten außerhalb des Spielfelds zu berichten weiß.
Blickt man nun ausschließlich auf die Vorstellungen im Jahr 2017 und besonders auf jene der letzten drei Wochen, dann ist bei der Borussia alles wieder halbwegs im Lot. Vier von sechs Bundesligapartien gewonnen, eine Runde weiter im Pokal. Zwei Ausreißer waren dabei, dank des BVB hat sich Darmstadt 98 erst am vergangenen Wochenende aufgegeben. Dazu das groteske Ergebnis, das man in der Champions League aus Lissabon mitbrachte.
Das Verletzungspech, in der Hinrunde einer der Hauptgründe für den schleppenden Saisonverlauf, ist den Borussen treu geblieben. Auch wenn es weiterhin genug lädierte Spieler gibt (Sven Bender, Mario Götze, Sebastian Rode, Nuri Sahin und nun auch Marco Reus), die richtig fit der Kaderstärke und dem Konkurrenzkampf sehr gut tun würden, hat es sich immerhin ein wenig gemildert.
Tuchel hat ein stabiles Grundgerüst gefunden
Jedenfalls haben die Blessuren nicht mehr jene Tragweite auf die Entwicklung dieser jungen, neuen Mannschaft, wie es noch im alten Jahr der Fall war. Der Start in 2017 war zwar keine spielerische Offenbarung, aber im Laufe der letzten Wochen hat es Tuchel geschafft, ein stabiles Grundgerüst entstehen zu lassen - mit Spielern, die derzeit eine starke Form aufweisen.
Zu diesen gehören Marc Bartra, Erik Durm und Gonzalo Castro, Kollegen wie Matthias Ginter, Andre Schürrle oder Shinji Kagawa sind einen Tick hinten dran. Tuchel hat eine erste Elf gefunden, die frei von Verletzungen einen ausgewogenen Rhythmus zwischen Defensive und Offensive findet und ihr ohne Zweifel großes Potenzial regelmäßig auf den Platz bringt.
Diesen Eindruck hatte man in Dortmund bereits zum Saisonstart. Nach Leipzig und vor Leverkusen erwischten die Schwarzgelben drei Sahne-Wochen, schossen in drei Spielen 17 Tore und boten Real Madrid die Stirn.
Gute Ausgangsposition - mehr nicht
Allerdings hat man sich beim BVB von dieser guten Frühform blenden lassen. Man dachte, das umgekrempelte Team sei schon weiter, als es eigentlich eine natürliche Entwicklung vorschreiben würde.
Davon sah man sich bald getäuscht. Tuchels Elf agiert bis heute wankelmütig und ist neben hoch seriösen Vorstellungen weiterhin für reichlich Schabernack zu haben. Auch aktuell hat man sich gemessen am Anspruch und den formulierten Saisonzielen allenfalls in eine gute Ausgangposition für den Saisonendspurt gebracht.
Platz drei in der Liga konnte zuletzt gefestigt werden, Rang zwei ist sogar etwas näher gekommen. Doch im Pokal warten nach einem Pflichtsieg gegen Lotte die Bayern auswärts und bei Benfica holte man sich eine hoch brisante Konstellation fürs Rückspiel (20.45 Uhr im LIVETICKER) ins Haus.
Diskussion um Tuchel nur aufgeschoben
Die letzten Leistungen des BVB haben aber bewiesen, dass es wieder etwas Licht gibt. Der Tunnel ist allerdings noch nicht endgültig passiert. Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig die Stabilität der aktuellen Borussia während der nun anstehenden Schlussphase der Saison wirklich ist.
Es stehen die entscheidenden Wochen an, die Zielvorgaben sind klar definiert: Die direkte Champions-League-Qualifikation in der Liga, das Erreichen des Viertelfinals in der Königsklasse und der Einzug ins Pokalfinale sind und müssen der einzig richtige Anspruch dieses Klubs sein.
Allerdings kann es auch genauso gut etwas weniger werden. Spätestens dann stünde dem BVB die nächste Auflage der Tuchel-Diskussion ins Haus, die sich nun quasi "dank" der Vorfälle rund um das Heimspiel gegen Leipzig klammheimlich beruhigt hat. Sie ist jedoch nur aufgeschoben, denn die Frage nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung ist ja noch nicht vom Tisch - ganz unabhängig vom Ausgang der Saison.
Weniger Ballbesitzfokus, mehr Konterfußball
Positiv sollte die Dortmunder stimmen, dass innerhalb des Kaders mittlerweile eine Gewöhnung aneinander stattgefunden hat. Die Spieler kennen sich nun besser, haben Intuition und Gefühl füreinander bekommen und sind in den letzten acht Monaten gemeinsam durch einige Höhen und Tiefen gegangen.
Taktisch hat Tuchel den starken Ballbesitzfokus des Vorjahres vernachlässigt, er setzt jetzt mehr auf Umschaltaktionen und Konterfußball. Es darf phasenweise sogar gerumpelt werden, immer wieder sieht man lange Bälle ins Angriffsdrittel. Angesichts der abartigen Geschwindigkeit der Dortmunder Offensivabteilung eine ausgewogene Mischung.
Hinzu kommt: Neuzugänge wie Raphael Guerreiro und allen voran Ousmane Dembele sind bereits leistungsstarke Korsettstangen des neuen BVB. Der Mannschaft läuft das riesige Potenzial weiterhin aus den Ohren hinaus, um es mit Jürgen Klopp zu sagen.
Tuchels BVB muss Prüfung antreten
Schmerzlich ist der erneute Ausfall von Marco Reus, sowohl fußballerisch als auch gruppendynamisch und gerade unmittelbar vor der wichtigen Partie gegen Benfica. Das Gerüst strahlt nun aber eine gemeinschaftliche Stärke aus, die auch diesen Verlust auffangen könnte.
Schafft es die Borussia, die gute Form zu verstetigen, um eine ungewohnt turbulente Saison zu einem positiven Ende zu bringen?
Zu einem früheren Zeitpunkt der Saison wäre eine ähnliche Aufgabenstellung aufgrund des großflächigen Umbruchs im Sommer noch reichlich ambitioniert gewesen. Nun aber können Tuchel und sein Team diese Prüfung antreten - und müssen es auch.
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