Es folgt den normalen Regeln des Markts und den Bedürfnissen einer neuen Generation Fans, dass sich die Fußballklubs dieser Welt mit immer schrilleren, selbstbeweihräuchernden Blasen umgeben. Die Anhänger gieren nach Wunderdingen auf täglicher Basis, wollen Zaubertore ihrer Idole mit den absurden Gehältern. Sie wollen Ikonen.
Das gilt umso mehr für einen Verein wie den Real Madrid Club de Futbol, bei dem man mit dem Ticket gleich das Recht auf Spektakel miteinkauft. Ein Recht darauf, sie zu sehen: die teuersten, begabtesten und spektakulärsten Spieler der Welt.
Zu all jenen gehört Carlos Henrique Casemiro nicht. Als Real vor acht Jahren 94 Millionen Euro für Cristiano Ronaldo zahlte, da kamen 80.000 Menschen ins Estadio Bernabeu, nur um ihn anzuschauen.
Die Leute backten Brot mit seinen Initialen oder malten sie sich auf den nackten Körper; ein Tamtam wie vor einem Clasico. Als Casemiro aus Sao Paulo nach Madrid kam, um in der königlichen Reserve Fußball zu spielen - da war er einfach da.
Das ist jetzt dreieinhalb Jahre her. Real wurde in der Zeit die beste Mannschaft der Welt und gewann zweimal die Champions League, Ronaldo wurde der beste Spieler der Welt und erhielt dreimal die Auszeichnung als Weltfußballer. Casemiro spielte für die Castilla, dann sporadisch für die erste Mannschaft und wurde zum FC Porto verliehen.Seit vergangener Saison ist Casemiro zurück in Madrid. Und vor dem Viertelfinale der Champions League gegen den FC Bayern (20.45 Uhr im LIVETICKER) darf man sagen: Er ist nicht der teuerste, begabteste oder spektakulärste, dafür aber der wichtigste Spieler der Königlichen.
"Nur wir allein wissen, wie schwer das war"
Casemiro wuchs in San Jose dos Campos auf, im Vale do Paraiba, eine gute Stunde nördlich von Sao Paulo. "Drei oder vier Jahre" war er alt, als sein Vater die Familie verließ; ihn, seine Mutter und seine beiden jüngeren Brüder: "Jedes Mal wenn ich das Spielfeld betrete, weiß ich, dass ich für sie rennen muss, und denke an die Schwierigkeiten, die wir hatten. Nur wir allein wissen, wie schwer das war."
Casemiro landete bald im Centro de Treinamento, dem Nachwuchsinternat der San Paulinos in der Nachbarstadt Cotia. Rasch durchlief er die Jugendteams, in jeder Altersklasse als Kapitän. Mit 18 Jahren feierte er schließlich sein Debüt in der brasilianischen Serie A, ein Jahr darauf wurde er mit der Selecao U20-Weltmeister.
Als ihn die Königlichen von Real Anfang 2013 auf die andere Seite der Welt holten, war Casemiros Wichtigkeit, die er noch erlangen sollte, nicht einmal zu erahnen. Erst als der Mittelfeldmann nach eineinhalb Jahren Castilla und Jokereinsätzen an den FC Porto verliehen und dort ad hoc Stammspieler wurde, waren sie in Madrid überzeugt. So sehr, dass die den Portugiesen die vereinbarte Kaufoption wieder abkauften, Casemiro zurück nach Spanien holten und ihn bis 2021 an das Bernabeu banden.
Zidane erkennt Casemiros Wichtigkeit
Dort hatte Rafa Benitez mittlerweile das Amt des Trainers von Carlo Ancelotti übernommen. Und schnell fand der Spanier Gefallen am Neuzugang. "Er füllt die Rolle aus, die ein offensiv ausgerichtetes Team braucht - er sorgt für die Balance", sagte Benitez damals. "Er hält das System aufrecht."
Doch ausgerechnet vor seinem ersten Clasico wurde Casemiro, bis dahin unangefochtene Stammkraft, aus der Mannschaft gestrichen. "Vorschläge" aus der Chefetage sollen damals an Benitez gerichtet worden sein: Er möge doch bitte eine möglichst galaktische Startelf auf das Feld schicken. Also musste Casemiro zusehen. Wie Isco und James Rodriguez, wie all die Ballkünstler der Königlichen spielen durften. Und 0:4 verloren.
Benitez' Ende war spätestens mit dieser Demütigung absehbar, und obgleich sein Nachfolger Zinedine Zidane war, selbst einer der größten Techniker aller Zeiten, war er es, der bald erkannte, wie unverzichtbar ein Spieler mit Casemiros Fähigkeiten für sein Spiel war. Dass alles Talent, das es im Madrider Kader gab, nichts wert war, wenn keine Balance und Absicherung im Spiel vorhanden waren.
Casemiro plus zwei
Zidane installierte Casemiro in seinem 4-3-3 zentral im defensiven Mittelfeld. Ist der Brasilianer fit, spielt er. Casemiro plus zwei - das ist Zidanes Formel für das Mittelfeld.
Der einzige Zerstörer, der einzige klassische defensive Sechser, ausgerechnet er ist in den letzten anderthalb Jahren so unersetzbar geworden im königlichen Ensemble. Als der 25-Jährige im ersten Saisondrittel wegen des Bruchs des Wadenbeinschaftes 14 Partien fehlte, spielte Real nur zweimal zu Null, einmal davon zuhause gegen Aufsteiger Leganes. Die Gegentore, der Punkteschnitt - alles ist besser, steht Casemiro auf dem Platz.
Er ist derjenige, der den Spielern vor ihm einen freien Kopf und freies Handeln ermöglicht. Er steht nicht selbst im Rampenlicht, vielmehr bereitet er wie ein Roadie die Bühne, damit die Zauberer der Mannschaft ihre Tricks vorführen können. Er ist der Inbegriff einer stabilen Absicherung - auch nach hinten. "Er ist taktisch sehr klug und immer da, wenn ihn die Verteidiger brauchen", sagte Julen Lopetegui, sein Coach beim FC Porto, über Casemiro. "Innenverteidiger lieben ihn." Als "Oktopus" bezeichnete ihn Lopeteguis Fitness-Coach.
Nicht galaktisch, aber der Beste
Casemiro hat es perfektioniert, den Spielfluss des Gegners zu zerstören, Bälle abzufangen, umzuschalten. Und wo er vergangene Spielzeit noch als limitiert im Passspiel verschrien wurde, weil er die Verantwortung im Aufbau sehr gerne und sehr schnell an Toni Kroos und Luka Modric delegierte, hat sich eine passable Spieleröffnung entwickelt.
Mittlerweile sucht Casemiro selbst die Angreifer. Er hat angefangen, eigene Entscheidungen zu treffen, was nicht nur ihn selbst, sondern auch Real noch einmal besser und unberechenbarer macht. Seine immer bessere Ballbehandlung und -kontrolle werden vor allem nach den Ausfällen von Pepe und Raphael Varane gegen die Bayern bitter benötigt werden, um der geschundenen Defensive Stabilität zu verleihen.
Denn dazu ist er da. Casemiro ist keiner der galaktischen Transfers, mit denen sich Präsident Florentino Perez rühmen kann. Es fällt nicht groß auf, dass Casemiro da ist; er fällt erst dann auf, wenn er fehlt. Und ganz sicher ist Casemiro nicht die erste Wahl, wenn es um den Flock auf den Trikots der meisten Realfans geht.
Dafür ist er der aktuell wichtigste Spieler des größten Fußballklubs der Welt.
Casemiro im Steckbrief