Eine Luxussituation, die lange nicht mehr dagewesen ist. Genauer gesagt seit sieben Jahren nicht mehr.
Gut fünf Wochen ist es her, dass Jerome Boateng im Bundesligaspiel gegen Eintracht Frankfurt sein Comeback nach langer Verletzungspause gegeben hat. Unter tosendem Applaus der Zuschauer in der Allianz Arena wurde er eingewechselt. Mit dem Weltmeister war tatsächlich erstmals seit Januar 2010 der gesamte Kader des Rekordmeisters an Bord. Also alle. Niemand auf der Verletztenliste.
Eine Luxussituation, weil auf allen Positionen ein maximaler Konkurrenzkampf herrschte. Eine der spannendsten Fragen seinerzeit: Wen schickt Trainer Carlo Ancelotti in der Innenverteidigung auf den Platz, wenn die richtig dicken Fische kommen? Wenn es im April in allen Wettbewerben in die heiße Phase geht? Javi Martinez spielt eine überragende Saison, Jerome Boateng und Mats Hummels gehören in Topform zu dem Besten, was der Weltfußball in der Abwehrzentrale hat.
Rätselraten um die Innenverteidigung
Nun ist April. Die heiße Phase. Das Rückspiel im Champions-League-Viertelfinale steht bevor. Auf einer der größten Bühnen im Weltfußball: im Estadio Santiago Bernabeu von Real Madrid.
Und tatsächlich ist Rätseln angesagt, wer in der Innenverteidigung auflaufen wird. Diese Prophezeiung hat sich bewahrheitet. Doch aus anderen Gründen.
Javi Martinez ist nach seiner Gelb-Roten Karte im Hinspiel sicher raus. Und für Mats Hummels (Sprunggelenk) und Jerome Boateng (Adduktoren) wird es ein Wettlauf gegen die Zeit.
Am Montagabend verwies Ancelotti bei der Pressekonferenz auf eben diesen Faktor: "Für Jerome und Mats ist die Zeit wichtig. Sie haben individuell trainiert. Sie müssen morgen früh noch mal trainieren, dann schauen wir. Beide haben noch die Chance zu spielen."
Beim anschließenden Training im Santiago Bernabeu lief vor allem Hummels unrund, vorsichtig, wirkte nicht unbedingt zuversichtlich.
Quereinsteiger Alaba
"Es wäre wichtig, dass ein gelernter Innenverteidiger spielen kann", sagte Kapitän Philipp Lahm zur Presse. Einer also. Dass sowohl Hummels als auch Boateng rechtzeitig bei 100 Prozent sein werden, ist beinahe ausgeschlossen.
Also steht gegen die Königlichen plötzlich doch wieder ein Quereinsteiger im Fokus: David Alaba.
Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren stand der Österreicher im Bernabeu schon einmal im Rampenlicht. Im Halbfinale gegen Real verursachte er bereits nach fünf Minuten mit einem unglücklichen Handspiel einen Strafstoß, den Cristiano Ronaldo zum 0:1 verwandelte. Mit einer überragenden Leistung und einem Treffer beim Elfmeterschießen hatte er danach maßgeblichen Anteil am Einzug ins Finale dahoam, das er aber verpasste, weil er für das Handspiel Gelb gesehen hatte. Tragischer Held.
Zumindest das Ende vom Lied - eine ausgelassene Party auf dem Rasen des Madrider Fußballtempels - soll sich fünf Jahre später wiederholen. Dafür will Alaba sorgen. Auf ungelernter Position.
Körpergröße als Faktor?
Dass Lahm die Wichtigkeit gelernter Innenverteidiger betonte, kommt nicht von ungefähr. Schließlich gehört die Offensive der Königlichen zur Creme de la Creme im Weltfußball.
Eine Eigenschaft der Aushilfs-Innenverteidiger könnte den Bayern Magenschmerzen bereiten: die Körpergröße. Hummels (1,92), Boateng (1,92) und Martinez (1,90) haben den Ersatzkandidaten Alaba (1,80) und auch Joshua Kimmich (1,76) einiges voraus. Besonders bei den brandgefährlichen Real-Standards könnte die fehlende Länge zum Nachteil werden.
Und dass das Kopfballspiel nicht unbedingt Alabas Paradedisziplin ist, zeigte sich bereits im Hinspiel: Nach einer Flanke von Toni Kroos aus dem rechten Halbfeld hatte der Österreicher im Kopfballduell mit Karim Benzema keine Chance, nur eine überragende Parade von Manuel Neuer verhinderte den 0:1-Rückstand.
Ungewohnte und ungeliebte Position
Ein Duell, in das Alaba am Dienstag wohl häufiger gehen wird. Wenn er auf ungewohnter und ungeliebter Position in der Innenverteidiger aufläuft.
"Ungeliebt" ist in dem Fall wohl ein zu starker Begriff. Klar, Alaba ist ein Teamplayer, der dort alles gibt, wo ihn der Trainer aufstellt.
Doch hätte er die freie Wahl, er würde sich wohl erst deutlich untergeordnet für einen Platz in der Innenverteidigung entscheiden. Immer wieder unterstrich der Österreicher in der Vergangenheit, auf Sicht im zentralen Mittelfeld spielen zu wollen.
Auch sein Nationaltrainer Marcel Koller betonte im SPOX-Interview, seinen Schützling dort zu sehen: "Meiner Meinung nach ist er im zentralen Mittelfeld am besten." Allerdings betonte er auch: "Er ist aber auch ein sehr guter Linksverteidiger. Überhaupt hat er in seiner Karriere schon fast alle Positionen gespielt und diese immer gut ausgefüllt. David ist ein Spieler, der eine hohe Intelligenz hat und sich schnell an neue Positionen gewöhnen kann."
Eben diese Polyvalenz ist für Alaba in München eher Fluch als Segen. Die personellen Planungen und Ancelottis Entscheidungen deuten nicht daraufhin, dass der 24-Jährige nahe dran ist, bald auf seiner Wunschposition ranzudürfen. Wunschposition war gestern. Funktion fürs Team ist heute, morgen und wohl auch übermorgen. Dafür ist Alaba ein zu guter Linksverteidiger.
Wenngleich ihm auch dort in dieser Saison erstmals Kritik entgegen schlägt: "In den vergangenen Monaten", sagte Koller zu SPOX, "wurde er zum ersten Mal in seinem Leben kritisiert, bis dahin war er immer Everybody's Darling. Es ist ihm bewusst geworden, dass es auch möglich ist zwei, drei Mal hintereinander schlechter zu spielen. Jetzt spürt er, was für einer enormen physischen und psychischen Belastung er ausgesetzt ist."
Alaba im Fokus wie lange nicht
Einer physischen und psychischen Belastung wird Alaba auch am Dienstag ausgesetzt sein. Wenn die Lichter im Bernabeu angehen, die Partie beim Stand von 2:1 für Real angepfiffen wird und die Bayern womöglich ohne ihre angestammte Innenverteidiger auf dem Rasen stehen.
Alaba steht so sehr im Fokus wie noch nie in dieser Saison.
Die Münchner geben sich angesichts des potentiellen Ausfalls der Stammverteidigung betont gelassen: "Sie sind jung, aber schon sehr erfahrene Spieler", sagte beispielsweise Manuel Neuer über Alaba und Kimmich, den Ancelotti für den Fall, dass sowohl Hummels als auch Boateng ausfallen, als "erste Option" bezeichnet. Neuer weiter: "Sie sind schnell und trotz der vergleichsweise geringen Größe stark im Zweikampf. Sie haben auch schon gute Spiele auf der Position gemacht."
Alaba durfte Ernstfall proben
Tatsächlich ist das sprachliche Bild der "ungewohnten Position" mittlerweile beinahe überholt. In der vergangenen Saison spielte Alaba beinahe die gesamte Hinrunde innen. Und auch in der Crunchtime der Spielzeit wurde er immer wieder in der Zentrale gebraucht. Sechs seiner zehn Champions-League-Spiele stand er als Innenverteidiger auf dem Rasen. Unter anderem in den Hinspiel gegen Juventus, Benfica und Atletico.
Innerhalb der letzten sechs Tage durfte der 24-Jährige zweimal den Ernstfall proben und sich wieder an das Spiel in der Zentrale gewöhnen. 30 Minuten gegen Real, mit mäßigen Haltungsnoten. Und 90 Minuten gegen Bayer Leverkusen, schon deutlich stärker mit guter Spieleröffnung (93 Prozent angekommene Pässe), starker Zweikampfführung (sechs von acht gewonnen, zwei von drei in der Luft) und Impulsen nach vorne (mit zwei Torschüssen als Innenverteidiger die meisten bei den Bayern).
Klar, Bayer Leverkusen ist nicht Real Madrid, die BayArena nicht das Santiago Bernabeu. Und doch hat Alaba angedeutet, dass er Innenverteidiger kann.
Mindestens diese Leistung wird er auch am Dienstag abrufen müssen, um fünf Jahre nach dem letzten Weiterkommen der Bayern gegen eine spanische Mannschaft wieder feiernd in die Madrider Nacht aufbrechen zu können.
David Alaba im Steckbrief