Eigentlich war sie auserzählt. Schon längst. Die Geschichte, warum Toni Kroos den FC Bayern München im Sommer 2014 verließ und sich Real Madrid anschloss. Nicht das gleiche Gehalt wie Mario Götze bot ihm der Rekordmeister in den Verhandlungen um eine Verlängerung des auslaufenden Vertrags. Für den Nationalspieler gleichbedeutend mit fehlender Wertschätzung. Alles nicht unerhört.
Und doch grassierte die Thematik in der vergangenen Woche noch einmal durch die Medien. Grund waren Aussagen von Kroos-Intimus Stefan Reinartz im Bleacher Report. Dieser gab an, "die ganze Geschichte" zu kennen.
Rummenigge: Kroos "kein Weltklassespieler"
Demnach habe Karl-Heinz Rummenigge seinerzeit zu Kroos gesagt: "Wir werden dir nicht mehr als zehn Millionen Euro bezahlen, denn du bist kein Weltklassespieler."
Ob sich Bayerns Vorstandsvorsitzender tatsächlich explizit dieser Wortwahl bediente, sei dahingestellt. Es ist auch nur niederschwellig relevant. Mindestens zwischen den Zeilen schwang diese Einstellung mit. Das ist bekannt, das hat Kroos mehrfach bestätigt.
Ein Affront, der die Verhandlungen beendete. Denn so wollte sich der damals 24-Jährige nicht abspeisen lassen. Heftiges Werben von Pep Guardiola hin oder her. Ein Verbleib war unmöglich, der Wechsel unumgänglich und Real Madrid nicht die unattraktivste Adresse.
Weltmeister, Champions-League-Sieger, spanischer Meister
Drei Jahre später hat niemand mehr Zweifel an der Weltklasse von Toni Kroos. Die Erfolgsspalte auf seinen Autogrammkarten ist seit den gescheiterten Bayern-Verhandlungen um einiges angeschwollen. Mittlerweile steht dort Weltmeister (auf dem Papier damals noch Bayern-Profi), zwei weitere Champions-League-Titel sind ebenso dazu gekommen wie die erste spanische Meisterschaft Reals seit 2012. Erfolge, bei denen Kroos nicht Statist war, sondern Mitgestalter, Leistungsträger und Führungsfigur. Er gehört zu den wichtigsten Spielern im Gefüge der Übermannschaft der letzten Jahre.
Kein Wunder, dass sein Trainer Zinedine Zidane am Montagabend erleichtert wirkte, als er bestätigte: "Toni ist hier, das bedeutet, dass es ihm gut geht. Wir wissen, wie wichtig er für uns ist."
Aufgrund von Rippenbeschwerden hatte Kroos am Samstag beim 2:1-Sieg gegen Alaves pausiert, am Sonntag nur individuell trainiert. Im Westfalenstadion soll ihm jedoch eine besondere Rolle zukommen, wenn Real den ersten Sieg in Dortmund überhaupt ins Visier nehmen möchte (bislang drei Niederlagen, drei Remis).
Kroos und Modric sind die Motoren des Real-Spiels
Taktisch hat Kroos gemeinsam mit Nebenmann Luka Modric die Aufgabe, das Spiel der Königlichen aufzubauen, zu strukturieren und den Rhythmus zu bestimmen. Sie sind der Motor.
Abwechselnd lassen sich die beiden in die eigene Hälfte zurückfallen, holen sich dort die Bälle ab und verteilen sie. Wenn die Außenverteidiger im Zidane'schen 4-3-3 weit aufrücken, verschieben Kroos und Modric nominell auf diese Positionen und fordern dort die Bälle.
Dabei setzt Real im Aufbau schwerpunktmäßig auf Dreiecks- und Rautenbildung, um sich sinnvoll nach vorne zu kombinieren. Kroos ist allerdings genauso in der Lage, den Rhythmus durch schnelle Vertikalpässe oder Diagonalbälle auf den gegenüberliegenden Flügel zu ändern.
Neben seinen strategischen Fähigkeiten ist der 27-Jährige als Standardschütze wertvoll. Seine Ecken schlägt er mit viel Schnitt meist in die Zone zwischen Fünfer und Elfmeterpunkt und findet dort seine kopfballstarken Mitspieler. Alleine Sergio Ramos legte er in der vergangenen Saison so fünf Treffer auf: "Toni macht es mir mit seinen gut getretenen Ecken und Freistößen bedeutend einfacher", schwärmte der Real-Kapitän deshalb im Juli gegenüber SPOX.
Kroos' Einfluss auf Reals Spiel nahm zu
Wie sehr Kroos in seinen drei Jahren bei den Königlichen vom Leistungsträger zum herausstechenden Führungsspieler geworden ist, belegen die Zahlen von Opta. Zwar blieb seine Passquote "nur" konstant auf sehr hohem Niveau bei 92,2 Prozent.
Gleichzeitig erhöhte sich jedoch sein Einfluss auf die Spielanlage. So kam er in der vergangenen Saison auf 87 Ballaktionen und 71 Pässe pro Spiel (2014/2015: 80 und 65), in der seit wenigen Wochen laufenden Spielzeit waren es sogar durchschnittlich 103 Ballaktionen.
Während Kroos in seiner Anfangszeit als Madrilene meist auf der Sechserposition spielte, hat er seit seiner Versetzung in den linken Halbraum auch offensiv mehr die Füße im Spiel. Seine Torbeteiligungen pro Spiel schraubte er von 0,25 (2014/2015) auf 0,52 - auch ein Ergebnis dessen, dass er mittlerweile im Schnitt beinahe zwei Ecken mehr pro Spiel schlägt.
Im direkten Vergleich mit seinem Mittelfeld-Kollegen Modric schneidet Kroos darüber hinaus in beinahe allen relevanten Kategorien besser ab: Er hatte letzte Spielzeit die stärkere Passquote (92,2 zu 89,1), gewann mehr Prozent seiner Zweikämpfe (58,8 zu 57,5), bereite mehr Torschüsse (80 zu 33) und Tore (12 zu 2) vor und traf selbst häufiger (3 zu 1).
Kroos' Standing bei Real Madrid und in der deutschen Wahrnehmung
Fernab von der taktischen Wichtigkeit und den nackten Zahlen hat sich in den vergangenen Jahren vor allem aber Kroos' Standing deutlich gewandelt. Seine Trainer - egal ob Jupp Heynckes, Pep Guardiola, Joachim Löw oder Carlo Ancelotti - waren schon immer begeistert von seiner Disziplin und seinem Spielverständnis.
In der Öffentlichkeit herrschte aber lange Zeit ein anderes Bild vor. Aufgrund seiner schnörkellosen und wenig schillernden Art musste er sich in früheren Jahren mit Diskussionen herumschlagen. "Querpass-Toni", "Tempo-Verschlepper", keine Ecken und Kanten, pure Langeweile waren die Vorwürfe.
"Grundsätzlich ist es nicht mein erstes Ziel, öffentliche Wertschätzung zu bekommen", hatte Kroos dies seinerzeit kommentiert.
Diese Wertschätzung ist mittlerweile jedoch vorhanden. Zidane stellt die Wichtigkeit des Weltmeisters heraus, Ramos bezeichnete es gegenüber SPOX als "Privileg, mit ihm zu spielen. Toni ist ein Spieler mit überragender technischer Qualität."
Kroos' Ausstrahlung hat sich gewandelt
Neben den Ritterschlägen prominenter Mitstreiter hat sich auch Kroos' Ausstrahlung gewandelt. Er wirkt körperlich kantiger, austrainierter. Er tritt in Interviews noch selbstbewusster auf als er ohnehin schon immer war, seine Social-Media-Auftritte stehen deutlich mehr im Fokus.
Darüber hinaus schärft der mittlerweile mit Tattoos zugetackerte linke Arm - so oberflächlich diese Sichtweise ist - sein optisches Profil. Vom pickeligen Teenager, der auf den Tag genau vor zehn Jahren als damals jüngster Spieler aller Zeiten sein Bundesliga-Debüt für den FC Bayern gab, ist nichts übriggeblieben.
Schritt zum Weltstar auf allen Ebenen
Kroos hat auf allen Ebenen den Schritt zum Weltstar gemacht, ohne dabei jedoch sein Wesen zu verraten. Weiterhin sorgt er nicht für private Skandale, ist mit seiner Stiftung sozial engagiert und dient als sportliches Vorbild, das noch nie in einem Profi-Pflichtspiel vom Platz flog.
Einzig eine individuelle Auszeichnung blieb dem Mittelfeldmann bislang verwehrt. Dass er bei der Wahl der Sportjournalisten zu Deutschlands Fußballer des Jahres hinter Philipp Lahm nur auf Platz zwei einlief, erzürnte seinen Berater Volker Struth: "Ich bin äußerst überrascht und verwundert über den Ausgang", raunzte dieser in einem Statement seiner Agentur Sportstotal. Bei solch einem Award müsse "der herausragende Spieler der vergangenen Saison gewürdigt werden. Und das war ohne Zweifel Toni Kroos."
In der Tat hätte Kroos die sportlichen Argumente auf seiner Seite gehabt. Er ist ein herausragender Spieler in der Übermannschaft der letzten Jahre.
Doch Kroos selbst stört sich nicht an der Nicht-Auszeichnung. Zumindest nicht öffentlich. Für ihn zählen die Titel mit der Mannschaft. Und die individuellen Awards wird er vermutlich in den kommenden Jahren ohnehin noch abräumen. Als der "Weltklassespieler", für den ihn Karl-Heinz Rummenigge angeblich vor drei Jahren noch nicht hielt.