Borussia Dortmund hat auch beim 4:0 gegen Atletico Madrid eine eindrucksvolle Vorstellung gezeigt und damit die Reifeprüfung bestanden. Es scheint keine Limits zu geben für die junge Mannschaft.
Am Ende dieses denkwürdigen Abends hüpften und tanzten die Fußballer von Borussia Dortmund vor der Südtribüne, wie sie es nach Heimspielen in der laufenden Saison eigentlich immer tun. Am Mittwoch hüpften die Dortmunder allerdings noch euphorischer als sonst, sie lachten noch befreiter und wirkten mitunter so, als könnten sie selbst nur schwer fassen, was sie gerade vollbracht hatten.
Auf der Anzeigetafel leuchteten eine Vier und eine Null auf, was für den BVB in seiner derzeitigen Verfassung gar nicht zwingend etwas Besonderes ist. Etwas Besonderes war es, dass die Schwarz-Gelben diesmal keine Bundesliga-Mannschaft wie den VfB Stuttgart am vergangenen Samstag mit 4:0 aus dem Stadion geschossen hatten, sondern Atletico Madrid, eine gefürchtete Spitzenmannschaft.
Jene Mannschaft, die in den vergangenen fünf Saisons zweimal im Finale der Königsklasse stand und seit Jahren weitgehend auf Augenhöhe mit Real Madrid und dem FC Barcelona um die spanische Meisterschaft kämpft.
Auch deshalb war die Partie mit Spannung erwartet worden. Es war der erste Prüfstein auf allerhöchstem Niveau für den BVB, eine Reifeprüfung, wie es Marco Reus ausdrückte. Wer sich vor dem Spiel mit Fans oder Journalisten unterhielt, merkte schnell, dass alles möglich schien. Eine - womöglich sogar krachende - Niederlage, ein umkämpftes Unentschieden, ein hauchzarter Sieg oder eben jenes Szenario, das schließlich eintreten sollte: ein weiteres Spektakel. Für Atletico war es indes die höchste Niederlage in der fast siebenjährigen Regentschaft Diego Simeones.
Der BVB ist wieder eine Spitzenmannschaft
Der BVB, so viel dürfte seit Mittwochabend klar sein, ist wieder eine Spitzenmannschaft - und die aktuell wahrscheinlich spannendste Mannschaft Europas.
Natürlich gab es auch diese Phase kurz nach der Halbzeitpause, in der die Rojiblancos immensen Druck aufbauten, in der sie nur Zentimeter vom Ausgleich entfernt waren. Natürlich fällt das Resultat letztlich zu hoch aus, und dennoch ist es bemerkenswert und ein Indikator von beachtlicher Reife und Leistungsfähigkeit, wie der BVB diese Phase überstanden und anschließend eiskalt zurückgeschlagen hat.
Es ist diese enorme Schnelligkeit auf und abseits des Platzes, die beim BVB verblüfft. Eigentlich hatten sie schließlich viel bescheidener geplant im Herzen des Ruhrgebiets. Die Verantwortlichen waren davon ausgegangen, dass es eine längere Zeit dauern könnte, bis der radikale Umbruch Früchte trägt. Nun allerdings führt Dortmund die Tabellen in der Bundesliga und in der Champions League souverän an, ist in der laufenden Saison und damit seit nunmehr zwölf Pflichtspielen ungeschlagen.
Auch wenn die Führungsriege und die Spieler das womöglich nicht hören wollen: Diese Dortmunder Mannschaft erinnert an den furiosen BVB aus dem dritten und vierten Jahr unter Jürgen Klopp. Wer am Mittwoch im Stadion war und diese Wucht spürte, hatte unweigerlich das Gefühl: Hier entsteht gerade etwas Großes. Womöglich etwas ganz Großes.
Mario Götze: "Es ist definitiv eine besondere Phase"
"Es ist schwierig, Vergleiche zu ziehen, 2011 liegt jetzt schon sieben Jahre zurück. Aber natürlich haben wir einen sehr guten Spirit und einen sehr, sehr guten Lauf", sagte Mario Götze hinterher in der Interviewzone. Der zuletzt wiedererstarkte Weltmeister, der gegen Atletico ein gutes Spiel gezeigt und das 3:0 wunderbar eingeleitet hatte, ließ es sich zwar nicht nehmen, zu betonen, dass der BVB aktuell "in den entscheidenden Momenten das Quäntchen Glück hat", er erklärte aber auch, was derzeit stimmt. Und das ist eine ganze Menge.
Explizit nannte Götze die Ergebnisse, die Anzahl der Tore, die Anzahl der Gegentore sowie "das, was wir offensiv und defensiv machen". Heruntergebrochen nannte Götze all jene Aspekte, die eine erfolgreiche Mannschaft ausmachen, wahrscheinlich sogar, ohne es zu merken. Es sei, sagte Götze noch, "definitiv eine besondere Phase". Und Götze kennt sich aus mit besonderen Phasen. Er war einer der Protagonisten, als beim BVB 2011 etwas womöglich Ähnliches entstand.
Als die Dortmunder Mannschaft mit vielen jungen Spielern, schnellem Umschaltfußball und maximaler Hingabe wie ein Sturm über die Stadien der Republik hinwegfegte, die Meisterschaft gewann, später das Double und noch später erst im Champions-League-Finale vom FC Bayern ausgebremst wurde. Auch damals hatten die Dortmunder einen Lauf, der sich irgendwann verselbstständigte, und das daraus resultierende Gefühl der Unbesiegbarkeit, das sie auch kleinere Rückschläge überwinden ließ.
"Wir sind offensiv unfassbar stark, haben viele Spieler, die den Unterschied ausmachen können", sagte Axel Witsel: "Selbst wenn wir mal 0:1 oder 0:2 zurückliegen, tun wir alles dafür, um mehr Tore zu schießen als der Gegner." Hinzu kommt die Breite im Dortmunder Kader, gleichbedeutend mit der Qualität, die Favre noch von der Bank bringen kann. Gegen Atletico etwa erzielten die eingewechselten Raphael Guerreiro (zwei) und Jadon Sancho drei der vier Treffer, es waren die Jokertore 15, 16 und 17 in der laufenden Saison.
Thomas Delaney: "Alles ist möglich"
"Atletico ist eine reifere Mannschaft als wir. Es ist noch früh in dieser Saison, aber dieser Schritt ist ein ganz großer für uns. Das gibt Selbstvertrauen", meinte Thomas Delaney. Ob es überhaupt Limits gebe für die junge Dortmunder Mannschaft, wurde Delaney gefragt. "Alles ist möglich", antwortete der Däne.
Ausschlaggebend für den Dortmunder Höhenflug sind mutige und clevere Entscheidungen, die der Verein in der Vorbereitung auf die Saison getroffen hat. Allen voran mit der Installation von Trainer Lucien Favre, der in der Lage zu sein scheint, aus jedem Akteur das Maximum herauszuholen. Es mutet beinahe unheimlich an, wenn man bedenkt, dass der BVB am Mittwoch mit dem erst 19-jährigen Dan-Axel Zagadou, unter Favres Vorgängern nicht gerade für seine Souveränität bekannt, und dem nur marginal älteren Abdou Diallo verteidigte. Gegen Diego Costa und Antoine Griezmann wohlbemerkt, zwei der wohl am unangenehmsten zu verteidigenden Stürmer überhaupt.
Es sind aber nicht nur der gefühlte und der echte Neuzugang, die unter Favre aufblühen. Entscheidend ist unter anderem, dass sich bislang nahezu jeder im Sommer getätigte Transfer als Glücksgriff entpuppt. Achraf Hakimi etwa erinnert an den jungen Lukasz Piszczek. Der etatmäßige Rechtsverteidiger verteidigt bei Bedarf auch links und verleiht dem BVB mit seinen dynamischen Läufen mehr Durchschlagskraft. Gegen Atletico bereitete er drei Tore vor.
Entscheidungen der Führungsetage als Basis des Erfolgs
Dann ist da Delaney, der mit physischer Präsenz und Zweikampfstärke vorweggeht. Gleiches gilt für Witsel, den Strukturgeber und heimlichen Kapitän des Teams. Und dann gibt es noch den schnellen Marius Wolf und den ungeheuerlichen Paco Alcacer, beide standen gegen Atletico nicht einmal im Kader.
Es sind aber nicht nur die Neuzugänge, die von Ersatztorhüter Marvin Hitz mal abgesehen allesamt tragende Rollen einnehmen, auch andere Akteure sind inzwischen besser und wichtiger als zuvor. Ob Roman Bürki, Manuel Akanji, Jadon Sancho oder Jacob Bruun Larsen. Selbst bei Reus, seit Jahren im Vollbesitz seiner Kräfte auf hohem Niveau unterwegs, ist in seiner neuen Rolle als Zehner und Kapitän eine erneute Leistungssteigerung zu erkennen.
Die Dortmunder haben sich nach der enttäuschenden und kurvenreichen Vorsaison hinterfragt, sie haben mit Favre wohl genau den richtigen Trainer verpflichtet und mit Sebastian Kehl und Matthias Sammer weitere richtige und wichtige Personalentscheidungen getroffen. Entscheidungen, die sich viel früher auszuzahlen scheinen, als ursprünglich gedacht. So war das übrigens auch 2011.