Bereits vor Anpfiff kristallisierte sich heraus, dass an diesem vorweihnachtlichen Mittwochabend im kalten Amsterdam etwas ganz Besonderes geschehen würde. Weiße und rote Lichtkegel tanzten abwechselnd durch die Reihen und über den Rasen, weiße Fähnchen wurden im Takt der Ajax-Hymne geschwenkt, Gesang aus abertausenden Kehlen ließ die Johan-Cruyff-Arena beben, während sich der Gästefanblock bereit machte, um seinen Teil der Kulissenverschönerung vorzunehmen.
Größere Fahnen, Flashlight, Pyrotechnik, die nach Nutzung in Form von grauem Rauch durchs Rund waberte. Gänsehautmomente im Zuidoosten der Amstel-Metropole und die perfekten Rahmenbedingungen für ein spannendes Champions-League-Duell um die Vormachtstellung in der Gruppe E, das wohl sämtliche Erwartungen übertraf.
Die angesprochenen weißen Fähnchen der Ajax-Anhänger sollten, das wurde im Verlauf des Abends deutlich, nicht sinnbildlich stehen. Ganz im Gegenteil: Der niederländische Rekordmeister lieferte seinem deutschen Pendant nicht nur ordentlich Gegenwehr, sondern stand kurz davor, die Bayern noch von der Tabellenspitze zu verdrängen.
Salihamidzic übt Kritik, Kovac mit Lob
Dass die Gäste ebenjenes Szenario noch abwendeten, am Ende ein 3:3 auf der Anzeigetafel prangte, war für Sportdirektor Hasan Salihamidzic dann auch der einzige Grund zur verhaltenen Freude: "Das einzig Positive ist, dass wir Erster sind", sagte der Bosnier im Anschluss an die furiose Partie, sparte aber einen Wimpernschlag später nicht mit Kritik.
Weil es wieder einmal viele Gegentreffer setzte, die abermals kurz vor Abpfiff fielen: "Wir haben kein gutes Spiel gemacht, sondern haben es vollkommen aus der Hand gegeben. Das darf nicht sein." Zumindest nicht mit den Ansprüchen, die man beim FC Bayern hat.
Ganz anders schätzte Trainer Niko Kovac die Darbietung seiner Mannschaft ein. Er habe "ein sensationelles Spiel gesehen", das er als "Werbung für den Fußball" deklarierte. Man konnte ihm diesbezüglich nur zustimmen, hatte die Begegnung doch wirklich alle würzigen Zutaten, um den Zuschauern ein schmackhaftes Spektakel zu servieren: Elfmeter hüben wie drüben, Brutalo-Fouls mit jeweils anschließendem Platzverweis, zahlreiche Wendungen, die sich in vier späten Treffern - natürlich zwei auf jeder Seite - äußerten. Grund genug für Kovac, das Erfreuliche herauszustellen: "Das Wichtigste ist, dass wir Gruppenerster sind", da war er sich mit 'Brazzo' einig. Der Coach ergänzte: "Wir haben 14 von möglichen 18 Punkten geholt. Wir sind zufrieden."
Wie groß die Erleichterung letztlich war, ließen einige Bayern-Spieler erahnen. Nachdem Schiedsrichter Clement Turpin abgepfiffen hatte, riss eine Handvoll die Arme gen Amsterdamer Nachthimmel. Allen voran Robert Lewandowski, der erneut einen Doppelpack für die Münchner beisteuerte.
Doppelpacker Lewandowski erleichtert
"Der Gegner hat alles getan, um zu gewinnen. Wenn man es am Ende aber doch schafft, Erster zu werden, ist das immer etwas Besonderes und etwas Gutes. Deshalb diese Reaktion", begründete der polnische Nationalspieler in der Mixed Zone und ließ unterschwellig durchblicken, dass die junge Ajax-Mannschaft einige Schwächen des Gruppenfavoriten entblößte und sogar in einer Statistik die Nase vorn hatte, die die Münchner normalerweise fest für sich gepachtet haben: Ballbesitz. Die Niederländer dominierten das Geschehen, während der aktuelle Bundesliga-Dritte kurzerhand sein Wohl in Kontern suchte, schnell umschaltete, wenn die Kugel erobert wurde.
Soweit der Plan, so gut die Umsetzung bis zum gegnerischen Tor. Das alte Lied, das stetige Leid bei den Bayern in dieser Saison bleibt die Chancenverwertung - so auch an diesem Abend. Als habe man quasi darauf gewartet, endlich selbst nicht das Spiel machen zu müssen, lauerte die Kovac-Elf auf Ballverluste oder Unkonzentriertheiten des Gegners, die besonders im ersten Durchgang auch eintrafen.
Jerome Boateng: "Waren effektiver, aber haben die Tore nicht gemacht"
Serge Gnabry beispielsweise profitierte gleich mehrere Male von schlimmen Abspielfehlern der Hausherren. Unwiderstehlicher Antritt, Überzahlsituationen und am Ende doch nur die Enttäuschung, weil der verheißungsvolle Gegenangriff nicht konsequent zu Ende gespielt wurde. Hinzu kam, dass Ajax-Keeper Andre Onana gleich mehrfach spektakulär rettete. Ein Fakt, den Jerome Boateng etwas verwirrend wie folgt erklärte: "Wir waren effektiver, aber haben die Tore nicht gemacht."
Auch seine Teamkollegen haderten mit dem Auslassen bester Möglichkeiten. "Wir haben es uns wieder selbst schwer gemacht. Wir hatten wahnsinnig gute Möglichkeiten in der ersten Hälfte"; sagte Niklas Süle in den Katakomben der Arena. Er schob nach: "Wir haben es nicht geschafft, dass der letzte Ball genau kommt, um es dem Mitspieler leichter zu machen, das Ding zu vollenden." Leon Goretzka pflichtete Süle bei. "Wenn man es nüchtern betrachtet, müssen wir mit einem 4:0 oder 4:1 in die Kabine gehen. Dann ist das Spiel nach den ersten 45 Minuten schon gelaufen. So wurde es eben noch einmal hektisch."
Dabei schien man mit dem tonangebenden Auftritt Amsterdams nicht gerechnet zu haben, wie der 23-Jährige durchblicken ließ: "Wir hatten nicht die Kontrolle über das Spiel, wie wir uns das gewünscht haben. Wir mussten oft gegen den Ball arbeiten, das sind wir nicht so gewohnt." Wenn die Bayern dann selbst die Initiative ergreifen wollten, ein geordnetes Aufbauspiel forcierten, sah sich die Defensivreihe einem extrem guten Pressing ausgesetzt, das immer wieder teils eklatante Ballverluste zur Folge hatte.
Das Resultat: Eine mäßige Passquote von 77,9 Prozent, während Ajax 84 Prozent der Pässe an den Mitspieler brachte. Alles Zahlenspiele, die obsolet wären, hätten die Bayern die Partie mit 1:0 oder 2:1 nach Hause gebracht.
Top-Gegner warten im Achtelfinale
Man solle nicht "schon wieder alles negativ sehen", forderte Boateng, als er mit den drei Gegentoren konfrontiert wurde. Natürlich sei das zu viel, aber so ist es im Fußball nun manchmal. Auch er untermauerte stattdessen noch einmal die Wichtigkeit von Tabellenplatz eins. Im Achtelfinale warten allerdings durchweg Klubs, die sich wie potenzielle Gruppensieger lesen.
Der einstimmige Tenor bezüglich der Ambitionen in der Champions League lautete im Nachgang übrigens, dass man so weit wie möglich kommen wolle. Das ist nicht sonderlich überraschend. Überraschend wäre es, wenn mit der schludrigen Chancenverwertung und den ständigen Last-Minute-Gegentoren in der laufenden Königsklassen-Spielzeit noch viele weitere Gänsehaut-Momente dazukämen wie in Amsterdam an diesem vorweihnachtlichen Mittwochabend.