DAZN-Experte Per Mertesacker hat sich vor den Halbfinal-Rückspielen in der Champions League (Di. und Mi., 21 Uhr live auf DAZN) zu den Themen geäußert, die derzeit von Fußball-Deutschland diskutiert werden. Sind Innenverteidiger wichtiger denn je? Wie steht er zu Shkodran Mustafi und Antonio Rüdiger? Braucht der FC Liverpool einen Top-Transfer im Mittelfeld? Welche Lehren sollte man aus dem schlimmen Zusammenprall von Jan Vertonghen ziehen?
Außerdem zieht Mertesacker einen Vergleich zwischen Ajax Amsterdam und Tottenham Hotspur und dem deutschen Fußball - und beantwortet die Frage, ob Mesut Özil einer europäischen Top-Mannschaft immer noch helfen kann.
These 1: Innenverteidiger sind das wertvollste Gut des Weltfußballs
Per Mertesacker: Aus meiner Sicht sind sie ein sehr wichtiges Gut. Ich habe sehr davon profitiert, Innenverteidiger sein zu dürfen. Trotzdem: Es gab Liberos, Manndecker und Vorstopper, es gab rechte und linke Läufer ... Der Fußball besteht aus vielen wichtigen Positionen. Innenverteidiger tragen ihren Teil bei, strukturieren und geben verbal den Ton an. Die Offensivspieler stehen normalerweise im Fokus, aber einmal in zehn Jahren darf ein Innenverteidiger bester Spieler sein: Virgil van Dijk jetzt in Liverpool, Fabia Cannavaro wurde 2006 Weltfußballer. Die Bayern haben zu Recht so viel Geld für ihre Neuzugänge in der Innenverteidigung ausgegeben. Aber wenn ein Manuel Neuer auf den Markt kommt, ist es genauso wichtig, ihn zu verpflichten. Und wenn Bayern keinen Robert Lewandowski hätte, würde das eine große Rolle spielen. Jede Position hat ihre Wertschätzung. Aber du brauchst auf jeden Fall zwei gute Innenverteidiger, wenn du eine Top-Mannschaft sein möchtest.
These 2: Liverpool fehlt kein Top-Transfer im Mittelfeld
Mertesacker: Liverpool fehlt absolut kein Toptransfer im Mittelfeld, weil sie diese Top-Spieler schon haben und unglaublich vielseitig sind. Spieler, die sich für die Mannschaft aufopfern, laufstark und torgefährlich sind. In Naby Keita haben sie einen Spieler, der noch nicht richtig Fuß gefasst hat. Oxlade-Chamberlain kann auch noch eine große Rolle spielen. Mit einem fitten Keita und Oxlade-Chamberlain hätte man auch von der Bank wieder Optionen. Wenn man im Sommer wieder einen Toptransfer stemmen würde, wer soll dann weichen? Soll Fabinho auf die Bank? Kapitän Henderson? Milner, der eine überragende Saison spielt? Ich bin mir sicher, dass Liverpool gut genug aufgestellt ist, wenn man alle Spieler halten kann. Dann hätte man fünf, sechs Spieler für drei Positionen.
These 3: Nach Vertonghen-Zusammenprall: Auch der Fußball braucht endlich ein Concussion Protocol
Mertesacker: Ich hatte selbst auch den einen oder anderen Zusammenprall, der dazu führte, dass ich einen Moment aus dem Spiel raus war. Bei mir war es meistens ein offener Cut, der dann behandelt werden musste. In solchen Fällen ist Vorsicht geboten. Es ist wichtig, dass man eine unabhängige Instanz hat, die den Spieler überprüft und ihn schützt. Zusammenstöße mit dem Ellbogen oder Kopf an Kopf, da muss man als Spieler vorsichtig sein. Das Gehirn trägt Schäden davon, wenn man in diesen Sitationen nicht richtig handelt. Ja, wir brauchen ein Concussion Protocol.
These 4: Jedes Bundesliga-Team hätte den gleichen Weg wie Ajax und Tottenham einschlagen und im CL-Halbfinale stehen können
Mertesacker: Davon bin ich absolut nicht überzeugt. Ich glaube, dass Ajax in seiner Spielweise einzigartig ist. Derzeit hat man die richtigen Spieler, um die nötigen Rollen auszufüllen. Tottenham hat in der Champions League ein bisschen mehr Erfahrung, aber auch die Spurs haben junge Spieler über Jahre entwickelt. Ich sehe keine deutsche Mannschaft, die in diese Rolle hätte schlüpfen könnte. Die Ajax-Spieler sind zu intelligent, zu gut aufeinander abgestimmt. Das ist eine einmalige Geschichte, die ganz schwer zu toppen ist. Es braucht eine ganz besondere Kombination: Trainer, Spieler, das nötige Vertrauen, ein über Jahre entwickeltes System, das in der Jugendarbeit schon gelehrt wird. Und das Vertrauen, dass die jungen Spieler auf diesem Niveau bestehen und sich von Runde zu Runde weiterentwickeln können. Da sehe ich keine deutsche Mannschaft, die das in dieser Intensität und Konstanz tut.
These 5: Mesut Özil würde immer noch jeder europäischen Top-Mannschaft gut tun
Mertesacker: Mesut tut Arsenal gut, wenn er in Topverfassung ist. Mit seinen offensiven Stärken tut er jeder europäischen Mannschaft gut. Woran er sicherlich noch arbeiten muss, ist sein Verhalten bei Ballverlust. Mannschaften auf europäischem Topniveau wissen ganz genau, wie sie zu verteidigen haben, in welchen Räumen sie stehen müssen. Offensiv ist Mesut für mich einer der Topspieler und macht den Unterschied aus. Für ihn wäre es gut gewesen, über Jahre bei einem Verein zu spielen, mehr als nur fünf, sechs Jahre. Dann hätte er die Chance gehabt, in die Rolle eines Luka Modric reinzuwachsen. Aber auch einem Modric fällt es schwer, dieses Niveau nach einem Topjahr zu halten. Es wäre eine große Herausforderung für Mesut gewesen. Aber so wäre Ronaldo vielleicht bei Real geblieben, weil er immer die besten Vorlagen bekommen hätte.
These 6: Jeder Bundesligist sollte sich mit Shkodran Mustafi beschäftigen
Mertesacker: Eine ganz schwierige Geschichte, weil sich Musti hier unglaublich wohl fühlt, bzw. im Ausland allgemein. Ich würde ihm nicht empfehlen, nach Deutschland zurückzugehen, weil er so tolle Erfahrungen im Ausland gesammelt hat. Ob London, Spanien oder Italien - er hat sich überall wohlgefühlt. Deshalb denke ich, dass seine primären Ziele auch fußballerisch im Ausland liegen. Ja, er stand zuletzt in der Kritik, aber wer stand das bei Arsenal nicht? Da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen. Er weiß, dass er hart an sich arbeiten muss. Es liegt an ihm, aus dieser Situation herauszukommen. Da habe ich vollstes Vertrauen.
These 7: Antonio Rüdiger ist die Zukunft der deutschen Innenverteidigung
Mertesacker: Rüdiger spielte eine richtig starke Saison, leider ist er jetzt verletzt. Bei Chelsea ist er zum Stammspieler geworden und für Jogi Löw in der Innenverteidigung eine sehr gute Option. Wir haben viele tolle Innenverteidiger, die den deutschen Fußball über Jahre prägen können. Wenn ich die Entwicklung Niklas Süles bei Bayern sehe, oder auch Niklas Stark und Thilo Kehrer. Wir haben viele junge, talentierte Spieler, die dem deutschen Fußball gut tun. Rüdiger ist einer davon. Muss er der Anführer in der Defensive sein? Das glaube ich nicht, aber das will er auch gar nicht. Wir haben immer gut daran getan, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Rüdiger hat den Anspruch, bei Chelsea Stammspieler zu werden, in dieser Saison erreicht. Es ist seine Aufgabe, das jetzt auch in der DFB-Elf zu schaffen.