Entgegen der Aussagen der spanischen Polizei fand die Schnellverhandlung in Sevilla jeweils Eintrag in das Bundeszentralregister der Betroffenen. Ein unschuldiger Fan wehrte sich dagegen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Erst nach einem fast zehn Jahre andauernden Rechtsstreit wurde im Mai 2020 seiner Klage auf Löschung der Eintragung stattgegeben.
Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der damals 21-jährige Bernd W. (Name von der Redaktion geändert) erstmals öffentlich, welch Leid ihm und den 14 weiteren Betroffenen widerfahren ist. Seinem Wunsch nach Anonymität wurde entsprochen. Einen Hintergrundbericht zu Polizeigewalt gegen Auswärtsfans bei Europapokalspielen in Spanien lest Ihr hier.
Herr W., Sie sprechen nun erstmals öffentlich über die Geschehnisse, die Ihnen am 15. Dezember 2010 in Sevilla widerfahren sind. Warum ist es Ihr Wunsch, dabei anonym zu bleiben?
Bernd W.: Ich denke, die Mehrheit der Fußballfans ist nicht unbedingt darauf aus, namentlich in den Medien erwähnt zu werden. So geht es mir auch. Ich habe zwar ein reines Gewissen, da ich damals absolut nichts getan habe. Das heißt aber leider nicht, dass das jeder so sieht. Selbst wenn die Eintragung im Bundeszentralregister nun gelöscht wurde, vom Tatvorwurf freigesprochen hat man mich ja bedauerlicherweise nicht. Es hieß nur, es seien Fehler im Verfahren gemacht worden.
Wie alt sind Sie heute und seit wann sind Sie BVB-Fan?
Bernd W.: Ich bin 31 Jahre alt und komme aus Nordrhein-Westfalen. Seit meiner Kindheit und den Meisterschaften 1995 und 1996 bin ich Fan, seit der Rückrunde 2006 besitze ich eine Dauerkarte für die Südtribüne.
Damals in Sevilla waren Sie also 21. Wie sehr fieberten Sie dem Spiel entgegen?
Bernd W.: Wie alle anderen Fans habe ich mich sehr darüber gefreut, dass der BVB wieder international spielt. Ich war in dieser Saison auch in Paris dabei, bei fast allen Spielen war ich im Stadion, ob zuhause oder auswärts. Auf Sevilla hatte ich besondere Lust, da in Deutschland Schnee lag und dort angenehme 15 Grad auf uns warteten. Ich bin mit drei Kumpels individuell angereist, wir hatten für zwei Nächte ein Viererzimmer in einem Hostel gebucht.
Wie haben Sie die Zeit bis zum Spiel verbracht?
Bernd W.: Wir sind angesichts des Wetters mit T-Shirt und kurzer Hose durch die Stadt gelaufen und haben uns alles angeschaut. Klar, da gab es schon Momente, in denen man von den dick eingepackten Einheimischen schräg angeschaut wurde. Die meisten Deutschen waren aufgrund der sommerlichen Kleidung klar erkennbar. Auch von der Polizei gab es deshalb ein paar böse Blicke. Wir haben uns aber verhalten wie normale Touristen, waren Tapas essen und mit vielen anderen BVB-Fans in Kneipen. Am Spieltag fanden sich dann alle im Stadtzentrum am ausgemachten Treffpunkt ein, die Stimmung war gelöst. Wir haben das alles sehr positiv empfunden, von der Polizei war da auch nichts zu sehen, es gab keine Vorfälle. Die Freude aufs Spiel wuchs stündlich. Als um 16, 17 Uhr der Fan-Marsch zum Stadion begann, war in keiner Weise absehbar, was später passieren sollte.
Der Marsch wurde von der Polizei begleitet. Im weiteren Verlauf zeigten sich die Polizisten überaus grob und pferchten die Dortmunder Anhänger immer wieder zusammen. Wie haben Sie das beobachtet?
Bernd W.: Anfangs haben sich die Polizisten noch sozial verhalten, aber es war eindeutig, dass sie auf alles vorbereitet waren. Sie waren komplett ausgerüstet, man könnte auch schwer bewaffnet sagen, teils mit Maschinengewehren. Auch Wasserwerfer standen bereit. Ich war beim Marsch relativ weit vorne dabei und habe alles hautnah mitbekommen. Recht bald haben die Polizisten mit ersten Provokationen begonnen: Erst hieß es, wir würden ihnen zu schnell, plötzlich wieder zu langsam laufen. Irgendwann hat der Erste seinen Schlagstock herausgeholt und in die Menge geknüppelt, ohne dass etwas von den Fans ausgegangen ist.
Wie wurde darauf reagiert?
Bernd W.: Natürlich gab es Leute, die sich das nicht gefallen ließen. Es fing daher an, dass sich gegenseitig mit Gesten provoziert wurde, aber es gab noch keine körperlichen Angriffe. Der Marsch ging langsam weiter und es wurde dunkel. Ziemlich unvermittelt brach dann das Chaos aus. Der Ursprung war, dass auf einmal eine große Schar Sevilla-Fans nur knapp an uns vorbeigeführt worden ist, von der natürlich auch noch weitere Provokationen ausgingen. Man hat gemerkt, dass sie bewusst darauf aus waren, uns zu treffen. Kurz danach ist der Marsch komplett auseinandergebrochen. Die Polizei verlor ihre Struktur, lief wild durch die Gegend und ritt mit Pferden durch alle Leute. Das Stadion war zwar in Sichtweite, aber niemand wusste, wo wir genau entlang müssen.
Wie haben Sie sich in dieser Lage verhalten?
Bernd W.: Ich war mit meinen Kumpels wie in einer Beobachterrolle. Wir haben nichts gemacht, uns ging es nur darum, irgendwie ins Stadion zu gelangen, weil wir hofften, dass es ein sicherer Zufluchtsort ist. Vor dem Stadion sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Ich war damals schon bei einigen Spielen im Ausland oder auch beim Derby gegen Schalke, aber das hier war für mich eine komplett neue Erfahrung. Auch wenn mir klar war, dass die spanische Guardia Civil eher als aggressiv einzustufen ist - es gab dort zuvor ja auch schon Auseinandersetzungen mit Bayern- und Schalke-Fans -, so schlimm war es noch nie.
Ab wann waren Sie schließlich im Stadion?
Bernd W.: Irgendwann habe ich mit Glück den Eingang des Gästebereichs erreicht, aber auf dem Weg dorthin meine Kumpels verloren. Das war ungefähr drei Stunden vor Anpfiff, das Stadion war leider noch geschlossen. In unmittelbarer Umgebung des Gästebereichs lief alles kreuz und quer durcheinander: Die Polizisten sind weiterhin mit Pferden durch die Menge geritten und haben die Leute mit dem Schlagstock geprügelt. Ihnen war auch egal, wen es traf, selbst Frauen, Kinder und ältere Personen haben viel abbekommen. Als schließlich der Eingang geöffnet wurde, ging es mir nur darum, schnellstmöglich hineinzukommen. Ich weiß noch genau, wie ich mein Ticket gescannt habe, mit erhobenen Händen ins Stadion ohne Umwege direkt in den Block gelaufen bin und dort zufällig wieder meine Kumpels getroffen habe. Zuvor war das Handy-Netz einfach zu überlastet, um sie telefonisch zu erreichen.
Wie stellte sich die Situation innerhalb des Stadions dar?
Bernd W.: Dort ging es ähnlich weiter, was vollkommen unnötig war, da nur noch Dortmunder in einem abgesperrten und komplett umzäunten Bereich standen. Die Polizei war mit im Block und ist weiter auf die Fans losgegangen, obwohl es relativ ruhig war. Davon haben sich logischerweise diverse Leute provozieren lassen, so dass auf einmal Sitzschalen und Mülltonnen in Richtung der Polizisten und von dort wieder zurückflogen. Da die Polizei um die Sitzreihen herum postiert war, war es auch nicht möglich, seinen Platz zu verlassen, um zur Toilette zu gehen oder sich etwas zum Essen und Trinken zu holen. Ein Bekannter hatte das versucht, wurde auf dem Weg zum Klo aber mehrfach von Polizisten geschlagen und ist unverrichteter Dinge wieder zurück in den Block geschickt worden.
Hat sich die Lage dann irgendwann beruhigt?
Bernd W.: Ja, nach einer halben, dreiviertel Stunde ungefähr. Als alle halbwegs sortiert im Block waren und auch die Mannschaften zum Aufwärmen aufs Feld kamen, war erst einmal alles überstanden. Man hat sich aber ständig beobachtet gefühlt, weil extrem viel Polizei im Block war und es auch Leute gab, deren Funktion ich nicht zuordnen konnte, die aber herumgelaufen sind und auf Fans gezeigt haben. Ich hatte die ganze Zeit ein komisches Gefühl, es herrschte eine trügerische Ruhe. Trotz allem habe ich mich auf das Spiel gefreut, denn es war ja sportlich brisant und ging für uns ums Weiterkommen. Daher habe ich auch nicht darüber nachgedacht, was nach dem Spiel passieren könnte.
Das Spiel endete 2:2, der BVB schied aus der Europa-League-Gruppenphase aus. Was geschah nach Schlusspfiff?
Bernd W.: Ich bin mit meinen Kumpels wie alle anderen vor uns ganz normal eine Treppe hinunter gegangen, als zehn Meter vor dem Ausgang auf einmal die Ansage der Polizei kam, dass man das Stadion nur noch in Zweiergruppen verlassen darf. Ich bin also mit einem meiner Jungs neben mir weitergelaufen. Als ich unten ankam, wurde ich völlig unvermittelt von rechts am Arm gepackt und zur Seite unter die Treppe gezogen. Mir gegenüber stand ein Polizist, der mit hektischen Gesten verlangte, dass ich ihm meine Hände zeige. Ich wusste nicht, was passiert ist und passieren wird, denn ich war wirklich der Erste, der herausgezogen wurde. Nach und nach gesellten sich rund 15 Fans hinzu, deren Aufpasser deutlich brutaler als bei mir vorgegangen sind. Der Großteil kam aus der aktiven Fanszene, aber es war auch ein Herr im Rentenalter dabei. Sie wurden teils in eine dunkle Ecke gezogen und geschlagen. Da wir uns nicht bewegen durften, habe ich das zwar nicht gesehen, aber die Schreie und Schläge deutlich gehört.