Diese Geschichte erschien zuerst auf DAZN.
Maceio im Nordosten Brasiliens. Malerische Sandstrände, imposante Architektur, auf den ersten Blick ein Urlaubsidyll. Der Schein trügt. Abseits der pittoresken, palmengezierten Küste herrschen Gewalt, Drogen, Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Maceio zählt zu den gefährlichsten Städten auf der Welt. Kriminelle Banden kontrollieren ganze Viertel, die Polizei kann sich besonders in den Favelas kaum durchsetzen, alle paar Stunden wird laut Statistik ein Mensch in Maceio ermordet.
Hier, in den Straßen und unwirtlichen Gassen der Millionenstadt beginnt die Geschichte eines Jungen, dessen größter Wunsch darin bestand, der Bedrückung zu entfliehen, hier manifestierte sich der Traum vom Fußballprofi. Hier beginnt die Geschichte von Roberto Firmino.
"Ich wollte nicht, dass Roberto draußen spielt, es war viel zu gefährlich in den Straßen", sagte seine Mutter einst im Gespräch mit dem englischen Boulevardblatt The Sun. "Die Leute sagten: 'Lass ihn gehen, er ist mit diesem Talent geboren.' Seit er acht Jahre alt war, schlief er mit dem Fußball im Arm ein."
In den Armenvierteln Brasiliens dient der Fußball nicht bloß als simple Passion oder schlichte Ausübung des kindlichen Hobbies, das häufig nur behelfsmäßig zusammengeflickte Leder steht sinnbildlich für das Streben nach Glück, für das Ausbrechen aus der sozialen Kalamität.
Für viele Jugendliche ist der Fußball die einzige Chance überhaupt. Eine gleichermaßen kleine wie verlockende Möglichkeit, die auch Firmino als viel zitierten Silberstreif am Horizont ausmachte. Ein Horizont, der weiter entfernt sein sollte als gedacht.
"Brasilien ist ungleich entwickelt. Maceio hatte zu jener Zeit keinen großen Fußballklub", sagt Christian Rapp, der von 2007 an federführend dabei half, eine Zweigstelle der Beraterfirma Rogon in Brasilien aufzubauen, im Gespräch mit Goal und DAZN.
Rapp begleitet Firmino seit dessen Jugendtagen, kennt den Werdegang des heutigen Liverpool-Stars genau. "Wenn du Profi werden wolltest, musstest du in Richtung Süden wechseln. Das fußballerische Zentrum liegt in Sao Paulo und Rio de Janeiro."
Freunde bezahlen Ticket fürs Probetraining, Sao Paulo lehnt Firmino ab
Da Firminos Eltern nicht über die finanziellen Mittel verfügten, ihrem Sohn die verhältnismäßig weite Reise in den Süden zu ermöglichen, halfen Freunde kurzerhand aus. "Freunde der Familie habe ihm damals, als er 14 Jahre alt war, ein Ticket nach Sao Paulo bezahlt, damit er beim FC Sao Paulo ein Probetraining absolvieren kann", sagt Rapp. "In Brasilien gibt es quasi eine Probetraining-Industrie, in einer normalen Woche kommen 40 oder 50 Spieler bei einem großen Klub zum Probetraining. Entsprechend klein sind die Chancen, es zu schaffen."
Firmino schaffte es nicht, fiel durchs Raster. Der große Traum drohte zu platzen, noch bevor er auch nur ansatzweise Fliegen gelernt hatte. Fatalisten würden die anschließenden Ereignisse als schicksalhafte Fügung deuten, andere als glücklichen Zufall. Jedenfalls öffnete sich eine andere Tür, als die erste sich geschlossen hatte. "Ein verdienter Spieler des Figueirense FC absolvierte damals seine Reha in Sao Paulo", sagt Rapp.
"Er rief sofort den Präsidenten von Figueirense an und sagte: 'Ich habe hier einen Spieler gesehen, den Du in Deinem Internat aufnehmen musst!' Er hat Roberto beobachtet und festgestellt, dass Sao Paulo gerade einen großen Fehler begeht, den Jungen wieder wegzuschicken." Tatsächlich kam der Wechsel in die Jugendabteilung von Figueirense zustande. Man könne das Internat zwar nicht mit den Nachwuchsleistungszentren in Deutschland, England oder Spanien vergleichen, sagt Rapp. Aber immerhin lebte Firminos Traum wieder.
Das Problem: Figueirense ist in Florianopolis im Bundesstaat Santa Catarina beheimatet, mehr als 3000 Kilometer von Firminos Heimatstadt Maceio entfernt, quasi am anderen Ende des Landes. Eine weite, kostspielige Reise, die Firminos Familie nicht bezahlen konnte. Firminos Eltern liehen sich das nötige Geld bei Freunden.
Sie ließen ihren Sohn ziehen, in dem Wissen, ihn für eine lange Zeit nicht wiederzusehen. "Mindestens zwei Jahre", sagt Rapp, habe Firmino seine Familie nicht zu Gesicht bekommen. "Weder die Eltern noch er selbst konnten das Geld für einen Besuch und eine anschließende Abreise aufbringen."
"Dieser Brasilianer mit den weißen Zähnen und seiner Zahnspange hatte das gewisse Etwas"
Den Schmerz, tausende Kilometer von den Eltern getrennt zu sein, schien Firmino in noch größere Zielstrebigkeit umzuwandeln. "Es gab für Roberto nur einen Weg: Es auszuhalten und sich sportlich durchzusetzen", sagt Rapp.
2008, Firmino spielte noch nicht allzu lange in der Jugend Figueirenses, zog er die Aufmerksamkeit eines deutschen Torhüters auf sich, der seinerzeit ebenfalls in Santa Catarina, genauer gesagt bei CA Ibirama, kickte. "Die Campeonato Catarinense (Staatsmeisterschaft von Santa Caterina) war in vollem Gange, wir trafen einige Male auch auf Figueirense", erinnert sich Lutz Pfannenstiel im Gespräch mit Goal und DAZN.
"Es war üblich, die jeweiligen Jugendmannschaften bereits einen Tag vorher gegeneinander spielten. Diese Spiele habe ich mir häufiger angeschaut", erzählt Pfannenstiel weiter und ergänzt: "Roberto ist mir als ganz junger Spieler aufgefallen. Dieser schlanke, drahtige Brasilianer mit den großen weißen Zähnen und seiner Zahnspange hatte das gewisse Etwas. Es wirkte immer so, als sei Roberto seinen Mit- und Gegenspielern immer einen kleinen Schritt voraus. Dennoch hätte ich nie prophezeit, dass er eines Tages zu einem internationalen Topspieler reifen könnte."
Um wen es sich bei dem Jungen namentlich handelte, wusste Pfannenstiel damals nicht. Dass er ein paar Jahre später noch einmal mit ihm konfrontiert werden würde, ebenso wenig.
Firmino avanvierte in Figueirenses U-Mannschaften zum Leistungsträger, im Oktober 2009 debütierte er mit 18 Jahren für die Profis in der zweiten brasilianischen Liga. Ein Durchbruch, der ihn auch bei Rogon mehr in den Fokus rücken ließ. "Roberto ist uns relativ früh aufgefallen. Als wir ihn persönlich kennengelernt haben, hatte er gerade erst seine erste Zahnspange bekommen", sagt Rapp. "Ein enger Partner von uns aus Brasilien stand mit ihm in Kontakt. Er hat mir ein sehr vorteilhaft geschnittenes Tape mitgegeben. Zur damaligen Zeit hat man noch CDs ausgetauscht."
Nach Sichtung besagter CDs habe man sich dazu entschieden, Firmino nach Europa zu bringen. "Wir sind mit dem Material nach Deutschland gegangen und haben mit allen möglichen Leuten gesprochen", erklärt Rapp. "Rückblickend wirkt das alles sehr einfach. Aber man muss sich klarmachen, dass die Verpflichtung eines jungen, brasilianischen Spielers immer mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Es war gar nicht so einfach, Interessenten zu finden."
Ein Interessent war Olympique Marseille, das Firmino sogar zum Probetraining einlud. Bei der Zwischenlandung in Madrid dann der Schock: Firmino wurde die Einreise verweigert, weil die Behörden diverse Dokumente sehen wollten, die Firmino nicht vorweisen konnte. Er wurde zurück in die Heimat geschickt - und obendrauf mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt. Der Teenager war am Boden. Beim nächsten Versuch holte Olympique den damals 17-Jährigen direkt nach Paris - nur um eine Verpflichtung nach dem Probetraining abzusagen.