Thomas Tuchel hätte gerne profitiert von der größten Fehleinschätzung des Sommers.
Als die hohen Herren des FC Barcelona in ihrem Wahn beschlossen, Luis Suarez auf die Abschussliste zu setzen, weil ein 2:8 gegen den FC Bayern München im Champions-League-Viertelfinale eben nicht ungesühnt bleiben durfte, wollte Tuchel den Stürmer zu Paris Saint-Germain holen.
"Wir hatten gehört, dass er dabei war, Barcelona zu verlassen. Und wer wäre nicht daran interessiert, einen der besten Stürmer der Weltgeschichte und Gegenwart des Fußballs zu verpflichten", sagte Tuchel am Montag. "Wir versuchten unser Glück, doch es klappte nicht."
Wer weiß, ob der dauerkriselnde und monströs verschuldete FC Barcelona jetzt weniger als acht Punkte Rückstand auf La-Liga-Tabellenführer Atletico Madrid und Top-Torjäger Luis Suarez haben würde, wäre Suarez nicht zum Bauernopfer der Blaugrana gemacht worden?
Wer weiß, ob Lionel Messi seinem Lieblingsklub auch dann eine (später zähneknirschend zurückgezogene) Kündigung per Burofax übermittelt hätte, hätten die hohen Herren seinen Kumpel nicht nach sechs Jahren und für fünf Millionen Euro Ablöse "vom Hof gejagt" (Messi)?
Wer weiß, ob Suarez 16 Tore in den ersten 17 Ligaspielen gelungen wären, wäre er bei Barca geblieben? In der gesamten vergangenen Spielzeit hatte er nicht mehr geschafft. Wer weiß, ob Tuchel noch Trainer bei PSG wäre, hätte Suarez sich für einen Umzug nach Paris statt nach Madrid entschieden?
Gewiss ist: Wäre Suarez damals zu PSG gewechselt, würde sich Tuchel vor diesem Achtelfinal-Duell in der Champions League zwischen Atletico Madrid und dem FC Chelsea (21 Uhr live auf DAZN und im Liveticker) keine Gedanken darüber machen müssen, wie um alles in der Welt er die Kreise dieses Luis Suarez' empfindlich stören lassen kann.
Luis Suarez: Ungerechte Behandlung als Motivation
"Er ist ein geborener Stürmer und hat diese gewisse Mentalität, die nur Stürmer haben. Diese Mentalität, stets den Willen, die Intensität und den Zorn zu zeigen, um zu treffen, zu treffen und zu treffen. Er ist niemals zufrieden", sagte Tuchel über den 34-Jährigen, der bei Atletico einen Vertrag bis Sommer 2022 unterschrieb.
Bei Atletico Madrid traf der aggressiv spielende Suarez, für den der Beiname "Beißer" hätte erfunden werden müssen, wenn er ihn sich nicht ohnehin schon durch zwei unrühmliche Aktionen verdient hätte, auf den aggressiven Diego Simeone, der seinen latent abwertenden und rassistischen Beinamen "Cholo" (Bezeichnung für Menschen indigener Abstammung, die Red.) seit jeher voller Stolz trägt. Und wenn sich Aggression paart, entsteht zumindest in diesem Fall - ein Hauch von Zauber.
Suarez und Simeone hatten sich nicht unbedingt gesucht - doch, als sie sich endlich fanden, war es die ebenso logisch-vernünftige wie heißblütige Liebe. Eine Vernunft- und Liebesheirat, erbaut auf dem Zorn auf den Rest der Welt. Beide ziehen einen großen Teil ihrer Motivation und ihres Arbeitseifers aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Und wann durfte sich Suarez noch ungerechter behandelt fühlen als in diesem Sommer?
"Mit all meinem Stolz sagte ich mir, dass ich zeigen würde, was ich wert bin", schilderte Suarez jüngst France Football seine Gefühle nach dem Aus bei Barca.
Luis Suarez: 31 Prozent seiner Schüsse erfolgreich
Und das tat er: Suarez hat bei Atletico in der Liga im Schnitt alle 96 Minuten getroffen in dieser Saison, fast 31 Prozent seiner Schüsse gingen ins Tor. Und da sind die letzten drei Ligaspiele, in denen er torlos blieb, schon dabei.
Sein Kumpel Messi, dem ebenfalls 16 Saisontore gelangen bisher, benötigte 110 Minuten für ein Tor bei einer Trefferquote von 17,5 Prozent seiner Schüsse.
"Wenn man bei Atletico ist, ist man in der Fußball-Elite. Einige Leute haben nicht geglaubt, dass ich noch auf diesem Level sein kann. Ich habe immer noch den gleichen Enthusiasmus", sagte Suarez jüngst zu ESPN. Simeone sei "ein Trainer, der den Spielern viel Selbstvertrauen gibt, er bringt dich dazu, mehr zu geben, als du dachtest."
Womöglich überraschte sein Trainer in dieser Saison auch sich selbst ein wenig. In seiner zehnten Saison als Trainer von Atletico Madrid erweiterte Simeone nämlich den Kanon seines Cholismus, die Grundgebote des Atleti-Spiels: Atletico soll immer noch eine Spur aggressiver und dreckiger spielen als der Gegner, die Colchoneros wollen immer noch kein rot-weißes Ballett sein, der vor allem defensive Kollektivgedanke steht noch immer über allem. Doch: Simeones heiliges 4-4-2 ist nicht mehr die einzige mögliche Grundordnung.
Luis Suarez: Simeone baute Atletico für ihn um
Nach dem CL-Viertelfinalaus gegen RB Leipzig im Sommer, als Julian Nagelsmanns Mannschaft Atleti und Simeone aus einer massierten 3-3-3-1-Grundordnung heraus quasi mit ihren eigenen Waffen schlug, verordnete Simeone sich eine flexiblere Denke.
Atleticos Spieler jagen nun nicht mehr manisch jeden Ball überall auf dem Spielfeld, Atletico lässt den Ball nun auch mal laufen, tritt deutlich dominanter im Mittelfeld auf und nimmt sogar mal kontrolliertes Spektakel in Kauf. Atletico spielt in dieser Saison mal aus einem 4-3-3, mal aus einem 3-5-2, mal aus einem 3-4-2-1.
Spätestens, als Suarez zum Kader stieß, verabschiedete sich der Coach auch von seinem Umschaltdogma. Suarez ist schließlich alles, nur eben kein Konterstürmer. Suarez muss auch defensiv nicht so mitarbeiten wie früher beispielsweise Antoine Griezmann. "Er braucht Mitspieler nah bei sich", sagte Simeone. Je nach Gegner und je nach den Trainingseindrücken der hochkarätigen und flexibel einsetzbaren Offensivspieler spielen neben oder hinter Suarez (wettbewerbsübergreifend 24 Spiele, 16 Tore, 2 Vorlagen) Joao Felix (72 Spiele, 9 Tore, 5 Vorlagen), Thomas Lemar (21 Spiele, 3 Tore, 5 Vorlagen), Angel Correa (31 Spiele, 4 Tore, 9 Vorlagen), Marcos Llorente (29 Spiele, 9 Tore, 8 Vorlagen) oder Yannick Carrasco (21 Spiele, 3 Tore, 5 Vorlagen, derzeit verletzt) auf den verschiedenen Positionen in der Offensive. Im Winter wurde auch noch Moussa Dembele ausgeliehen, der aber wegen einer Corona-Infektion erst jetzt einsatzfähig ist.
Luis Suarez: "Ich entscheide, wann ich gehe"
Mit 45 Toren stellt Atletico hinter Barca (50) somit die treffsicherste Offensive der Liga. Beamtenfußball würde Atleti heute keiner mehr unterstellen. Und weniger als 16 Gegentore kassierte auch kein Rivale. Aber: In den letzten sieben Ligaspielen kassierte Atleti mindestens ein Gegentor - das gab es unter Simeone noch nie. Und nach dem 0:2 am Samstag gegen Levante und zwei Unentschieden im Februar schmolz der Vorsprung auf Platz zwei und Real Madrid auf drei Punkte. Zwischenzeitlich waren es mal elf Zähler.
Wie auch immer die erste kleine Ergebniskrise Atleticos in dieser Saison zu Ende gehen wird: Vom Hof jagen wird Suarez am Ende der Saison niemand. Der Stürmer hat sich eine einseitige Ausstiegsklausel in den Vertrag schreiben lassen. "Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr, im nächsten Jahr und für wie viele Jahre auch immer weiter konkurrenzfähig bin und mein Bestes gebe, bis man merkt, dass man so weit gegangen ist, wie man kann. Aber niemand wird mich loswerden. Ich werde entscheiden, wann ich gehe", sagte er ESPN.
Luis Suarez und Lionel Messi im direkten Vergleich
Spieler | Spiele | Minuten | Tore | Schüsse (aufs Tor) | Minuten/Tor |
Lionel Messi | 21 | 1763 | 16 | 91 (60) | 110,19 |
Luis Suarez | 20 | 1548 | 16 | 52 (27) | 96,75 |