Nicht immer reichte es für einen gefährlichen Konter. Manchmal knüppelte Atletico die Kugel auch einfach kompromisslos hinten raus. So wie nach knapp einer Stunde, als der Ball im Seitenaus von Barcelonas Hälfte landete. Da kein Verteidiger in unmittelbarer Nähe war, fasste sich Jose Manuel Pinto kurzerhand ein Herz.
Der Barca-Keeper rannte wie von Sinnen Richtung Auslinie, um - etwa 35 Meter vor dem eigenen Tor - selbst den Einwurf auszuführen. Doch gerade rechtzeitig eilte Dani Alves herbei, brachte ihn zur Vernunft und nahm sich schließlich selbst des Einwurfs an. Pinto rannte wieder zurück und sammelte noch ein paar Extrameter auf seinem Tacho.
Am Ende waren es 5,3 Kilometer, die Barcelonas Torhüter zurückgelegt hatte. Was das über ihn aussagen mag, spielt keine Rolle. Deutlich aussagekräftiger ist jedoch der Vergleich mit den Werten eines seiner Teamkollegen: Lionel Messi. Barcelonas Superstar kam auf gerade einmal eineinhalb Kilometer mehr Laufweg als sein Keeper. Seine zurückgelegte Distanz lag nach 90 Minuten bei 6,8 km.
Irrwitzige Balljagd in der Anfangsphase
Bezeichnend für Messis bescheidenen Auftritt im Vicente Calderon. Aber auch bezeichnend für den beeindruckend aufgegangenen Plan von Diego Simeone. Atleticos Coach weiß, wie man Messi den Zahn zieht und Barcelona unschädlich macht. Von fünf Aufeinandertreffen in der laufenden Saison endeten vier remis. Barca selbst erzielte in 450 Minuten gegen die Colchoneros nur zwei Tore.
Im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League funktionierte Simeones Taktik besonders gut. Seine Elf war quasi in zwei Blöcke aufgeteilt. Die Defensive, inklusive der beiden Sechser Gabi und Tiago hatte offensiv nahezu gar nichts zu melden. Auch bei Kontern wurde hinten gewissenhaft abgesichert.
Davor randalierte das Offensiv-Quartett bestehend aus Koke und Raul Garcia auf den Flügeln sowie Adrian und Villa in der Mitte. Alle vier zelebrierten Offensivpressing und veranstalteten gerade in der Anfangsphase eine irrwitzige Balljagd.
Oft mit Erfolg: Barcelona verlor häufig den Ball noch im Anfangsdrittel, was Atletico enorme Räume für schnelles Umschalten ermöglichte. Die indisponierte Innenverteidigung tat ihr übriges. So wie vor Villas Pfostenschuss, als Sergio Busquets den Ball am eigenen Strafraum verloren hatte (11.) und Villa ungestört in die Gasse vorstoßen konnte.
Kein Weg durchs Zentrum
"Wir wollten sofort Druck machen, sobald Pinto den Ball abschlägt", erklärte Simeone seinen Plan. "Falls sie diesen Druck überstanden haben, haben wir sie tief in unserer Hälfte erwartet." Dort wurde Barca meist auf die Flügel gedrängt, auch um das schnelle Kombinationsspiel durchs Zentrum zu vermeiden und so den Offensivspielern Zeit zum Rückzug zu geben.
"Wir haben uns für das kleinere Übel entschieden und ihnen die Außenbahnen angeboten, damit sie von der Seite flanken", so Simeone weiter. Sein Plan ging auf. Barcelona fand durch die engmaschige Zentrale nur äußerst selten einen Weg und ließ sich tatsächlich auf die Flügel drängen und zu außergewöhnlich vielen Flanken nötigen.
So blieben Barca Räume auf den Außen, doch das Zentrum war dicht. Messi, der oft den Weg über den rechten Halbraum in die Mitte suchte, zog dort einsam und isoliert seine Kreise. Ohne die gewohnten schnellen Anspiele, die Möglichkeiten zum Doppelpass, ohne dieses kleine bisschen an Raum im Zentrum, das ihm schon reichen kann, um seine Genialität auszuleben.
Stattdessen musste er zusehen, wie die Außenverteidiger Jordi Alba und Dani Alves mehr als doppelt so viele Ballkontakte hatten wie er, der in 90 Minuten nur auf deren 57 kam.
Opta-Heatmap: Lionel Messi gegen Atletico Madrid
Strategisch und kämpferisch überlegen
"Die großen Schlachten gewinnen nicht die Besseren, sondern die, die strategisch am besten handeln", beschrieb Simeone seine taktische Meisterleistung treffend. Wobei hinzukam, dass Atletico auch kämpferisch den Katalanen an diesem Tag einige Schritte voraus war.
Von Beginn an schien es, als fehle Barca die geistige Frische, oft auch die letzte Konsequenz im Zweikampf. Die Colchoneros hingegen nahmen die Zweikämpfe bedingungslos an und fuhren selbst mit letzter Kraft im zweiten Durchgang noch brandgefährliche Konter.
"Wir sind heute sehr viel gerannt", resümierte Koke hinterher. Angetrieben von einem Publikum, das vor lauter Euphorie für ein 90-minütiges Konzert aus Gesängen, Reklamationen und schließlich grenzenlosem Jubel sorgte. "Schauen Sie sich diese Fans an. Mit diesen Fans ist es unmöglich zu verlieren", schwärmte Koke. Und Trainer Simeone war sich gar sicher: "Sie haben meine Spieler entscheidend beeinflusst."
Schub für das Selbstverständnis
Er selbst machte seinen Spielern hinterher noch ein aufrichtiges Geständnis: "Ich bewundere diese Spieler. Ich liebe sie. Diese Spieler machen immer weiter", sprach er voller Begeisterung über den Erfolg seiner Truppe. Zum ersten Mal seit 40 Jahren steht Atletico Madrid wieder im Halbfinale der Champions League.
Doch das Spiel gegen Barca war mehr als nur der Einzug in die nächste Runde. Es war ein Statement, das seinesgleichen sucht. Zum ersten Mal seit 2007 steht Barcelona nicht mehr im Halbfinale der Königsklasse. Atletico hingegen schon. Das Atletico, das diese Saison plötzlich auch die Liga-Tabelle anführt.
Nach all den Jahren zwischen Mittelmaß und Europa League, in denen es maximal für das CL-Achtelfinale gereicht hatte, gehört die Simeone-Truppe nun zu den besten vier Teams Europas. Ein wichtiger Schub für das eigene Selbstverständnis eines Klubs, der in den vergangenen Jahren regelmäßig wichtige Leistungsträger an namhafte Konkurrenten verlor.
Mittlerweile ist Atletico mit den besten Klubs Europas auf Augenhöhe. Diego Simeone ließ es sich dementsprechend auch nicht nehmen, das nach dem Sieg über Barcelona vehement zu unterstreichen: "Wir können andere Teams um ihre finanziellen Möglichkeiten beneiden. Aber vom Sportlichen her müssen wir niemanden beneiden."
Atletico Madrid - FC Barcelona: Daten zum Spiel