Die offizielle Nachspielzeit der zweiten 45 Minuten betrug zwei Minuten. Doch offenbar wusste am Dienstagabend jeder im Dortmunder Stadion, dass es eine dritte Nachspielzeit geben würde. So gut wie kein Zuschauer verließ nach Abpfiff, nach dem Gewissheit herrschte, dass Borussia Dortmund aus der Champions League ausgeschieden ist, seinen Platz.
BVB-Trainer Jürgen Klopp marschierte mit gen Publikum gerichteten Händen hinter den Ohren zielstrebig und ohne eine Miene zu verziehen an seiner Mannschaft vorbei Richtung Südtribüne. An der Torauslinie angekommen drehte er sich klatschend zu seiner Elf um, die am Strafraum stehend den Fans für eine großartige Unterstützung applaudierte.
Klopp begab sich damit in die Rolle der Anhänger und würdigte wie der Rest im Signal Iduna Park eine Leistung, die angesichts der ernüchternden Pleite in Madrid viele nicht für möglich gehalten hatten. Erst recht nicht unmittelbar vor dem Spiel, als auch der letzte von der Mannschaftsaufstellung des BVB erfahren hatte.
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Aufstellung sorgt für Verwirrung
Klopp überraschte mit der Schonung des seit November durchspielenden Innenverteidigers Sokratis. Er brachte dafür den 34-jährigen Manuel Friedrich, dessen letzter Startelfeinsatz vom desaströsen 0:3 in Hamburg datierte. Klopp setzte Winter-Neuzugang Milos Jojic zum ersten Mal von Beginn ein, weil Nuri Sahin über Probleme mit dem Rücken klagte. Und er beorderte Dauer-Reservist Oliver Kirch als einzigen Sechser vor die Dortmunder Viererkette.
"Schenkt Klopp jetzt ab?", war nicht der einzige Kommentar, den man im Stadion vor Anpfiff vernahm. Natürlich war der Coach ein wenig dazu gezwungen, nach dem 0:3 im Hinspiel offensiver aufzustellen. Aber gegen das Madrider Starensemble das Wunder schaffen mit Friedrich, Jojic und Kirch? Mit einem Team, das so noch nie zusammenspielte?
Was Borussia Dortmund dann aber ab dem von Angel Di Maria verschossenen Elfmeter in der 17. Minute auf den Platz brachte, war aller Ehren wert und so nicht vorhersehbar. Die Westfalen spielten gerade in dieser Formation formidable 30 Restminuten im ersten Abschnitt, in der die Essenz des BVB-Spiels auch von Akteuren umgesetzt wurde, die ohne die große Verletztenmisere kaum eine Rolle spielen würden.
"Es war beeindruckend"
"Es war beeindruckend zu sehen, wie die Jungs, die nicht zur Stammformation zählen würden, wenn alle fit wären, geackert und defensiv Zweikämpfe gewonnen haben", lobte Mats Hummels und erklärte: "Wir wissen, wie gut diese Jungs sind. In der Öffentlichkeit werden Ersatzspieler schlechter gesehen, als sie sind. Sie sind aber auch verdammt gut, nur dürfen sie das eben nicht so oft zeigen. Ich bin mir sicher, dass es einige Unkenrufe gab, als die Aufstellung bekannt wurde."
Dortmunds mehr oder weniger zusammengewürfelte Mannschaft, dazu noch entgegen des Standards in einem 4-1-4-1 gekleidet, betrieb einen enorm hohen Laufaufwand, spielte vor allem nach zweiten Bällen ein grandioses Gegenpressing, schaltete dann wie zu besten Zeit druckvoll in die Offensive um und brachte mit dieser Vorgehensweise Real Madrid dazu, es "mit der Angst zu tun zu bekommen", wie Trainer Carlo Ancelotti nach der Partie zugab. "Wir haben die Kontrolle über das Spiel verloren", sagte er zur Dortmunder Leistung bis zum Halbzeitpfiff.
Jojic brillierte in seinem ersten Champions-League-Spiel von Beginn an mit einer enormen Ruhe am Ball, stieß immer wieder vorne rein und zeigte sich dennoch stark in der Balleroberung. "Milos Jojic macht sein Debüt von Beginn an - sowas habe ich noch nicht gesehen", sagte Klopp. Kirch spulte etliche Kilometer ab und biss sich in die Partie. Friedrich wies eine Zweikampfquote von 100 Prozent auf und war in der Luft nicht zu bezwingen.
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Hummels: Eine "Demonstration"
"Ich denke, wir können so selbstbewusst sein, zu sagen, dass die halbe Stunde in der ersten Halbzeit nach dem verschossenen Elfmeter eine Demonstration von uns war. Real hatte danach keinen Torschuss mehr", so Hummels.
Der BVB befindet sich derzeit in einer Phase, in der die Leichtigkeit der letzten Jahre vor allem über die Mentalität und den Willen kompensiert werden müssen, um das eigene Spiel auch durch zu bekommen. An der Einstellung und Leidenschaft hat es trotz der schwierigen Begleitumstände in dieser Saison nur selten gehapert, "manchmal hat es eben fußballerisch nicht gereicht", wie Hummels bekannte.
Die Dortmunder Mannschaft hat am Dienstagabend gezeigt, dass die von Klopp vor eineinhalb Jahren als "Mentalitätsmonster" titulierte Truppe trotz aller Unkenrufe auch in grundverschiedener Besetzung eben jene spielerischen Qualitäten abrufen kann, die die Borussia zuletzt so erfolgreich gemacht haben. Dortmunds grundsätzliche Stärke trägt auch in veränderter Formation und ist eben gerade nicht von Einzelnen abhängig, das haben die Friedrichs, Jojics und Kirchs gegen eine Hausnummer wie Real Madrid eindrucksvoll bestätigt.
Klopp lobt Leistung der Mentalitätsmonster
"Das war unfassbar, was die Jungs heute gespielt haben. Sie wollten unbedingt weiterkommen. Wir haben unser Spiel zu 100 Prozent auf den Platz gebracht. Man muss aber ganz klar festhalten: Das Spiel heute war so gut, da kann man niemandem auch nur den kleinsten Vorwurf machen. Die Jungs haben sich alles abverlangt. Ich bin sehr stolz auf das Bild, das Borussia Dortmund heute Abend abgeliefert hat. Es wäre extrem cool, wenn man dieses Spiel als ganzes betrachten würde - und nicht an vergebenen Torchancen festmacht", gab Klopp einen Einblick in seine Gedankenwelt, die ihn vor der Südtribüne vereinnahmte.
Wäre das Dauerproblem der mangelnden Chancenverwertung nicht weiter präsent, Borussia Dortmund hätte nach dem Kapitel Malaga aus dem Vorjahr ein weiteres Europapokal-Märchen schreiben können.
Klopp fand ob der Rückkehr der Mentalitätsmonster trotzdem schnell seinen Frieden: "Unter einer Million Möglichkeiten, heute auszuscheiden, war das die Beste."
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