Durchatmen. Ganz tief durchatmen. Sami Khedira steht am Mittelkreis, die Füße leicht versetzt, die Arme in die Hüften gestemmt. Wer selbst einmal Fußball gespielt hat, weiß, was jetzt im Mittelfeldspieler vorgeht. Die Zeit läuft plötzlich langsamer, die Geräusche sind gedämpft. Man distanziert sich vom Geschehen und ist für einen Moment in seiner eigenen Welt.
"Was machen wir hier eigentlich? Was passiert gerade?", dürfte sich Khedira gefragt haben. Christian Fuchs hat soeben die Führung für Schalke erzielt, das Fußballwunder im Santiago Bernabeu ist plötzlich keine Utopie mehr. Real hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Moment Zugriff auf das Spiel.
Das Team spielt nicht wie ein Team. Die Mannschaftsteile sind isoliert voneinander, die Abstände passen nicht. Madrid findet keinen Ansatzpunkt im Gegenpressing und muss zusehen, wie Schalke ein ums andere Mal unbehelligt auf die Viererkette zuläuft. Der Führungstreffer von S04 fällt nicht aus dem Nichts, er hatte sich minutenlang angedeutet.
Umstellung nach dem ersten Tor
Ob Khedira in diesem Moment mitbekommt, was um ihn herum geschieht? Wohl nicht. Alvaro Arbeloa flucht und gestikuliert vor sich hin, Pepe schüttelt fassungslos den Kopf. Die Pfiffe werden lauter, nicht zum ersten Mal übertönen sie die 4000 mitgereisten Schalker.
Cristiano Ronaldo, in den letzten Spielen ein Schatten seiner selbst, windet sich und keift seine Mitspieler an. Carlo Ancelotti hat da schon einen Plan. Der Italiener winkt und ruft Gareth Bale zu sich. Die Madrilenen stellen um: Aus 4-3-3 wird ein 4-4-1-1 in der Defensive.
Kurz wird das Spiel der Madrilenen besser. Die Räume werden kleiner und Ronaldo trifft - nach einer Standardsituation. Sein Jubel soll aufwecken, der Portugiese ist angefressen. Er wirft sich auf einmal in Zweikämpfe, wird zur Führungsfigur. Eine Rolle, die ihm sonst nicht zu Gesicht steht. Ronaldo will, dass sein Team genauso spielt wie Schalke.
Duell zweier Gegensätze
Die Gäste haben ihren Respekt aus dem Hinspiel abgelegt. Aggressiv, laufstark, ständig wach spielen sie eine starke Partie. "Ich möchte, dass die Mannschaft in Zukunft wieder mehr Fußball spielt, und das hat sie heute gemacht", wird Roberto di Matteo im Anschluss ausführen.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Schalke wird wieder in Führung gehen, vor und nach der Pause Rückschläge erleiden und trotzdem am Ende noch die Chance aufs Viertelfinale bekommen. Es ist ein verrücktes, ja wirklich historisches Spiel zweier Gegensätze.
Di Matteos Team bietet das Gegenstück zu Ancelottis Haufen an Stars. Eine geschlossene Mannschaft, jeder steht für jeden ein. Die Youngster Max Meyer und Leroy Sane glänzen. Madrid zerfällt in Einzelteile. Da ist Iker Casillas, Ex-Welttorhüter ohne Sicherheit. Da ist Pepe, Abwehrchef ohne Ordnung. Da ist Toni Kroos, Gehirn eines Titelverteidigers ohne jede Energie. Und da ist BBC, geniales, offensives Traumtrio ohne Anbindung zum Rest.
Erinnerungen an Dortmund 2014
Die Königlichen haben es verpasst, den Schalter umzulegen. Nach dem Bilbao-Spiel (0:1) war die Konzentration schon auf den vielleicht in der Liga entscheidenden Clasico gegen den FC Barcelona gerichtet. Schalke? Aus den Augen, aus dem Sinn. Der 2:0-Hinspiel-Erfolg sollte als Polster reichen, außerdem war der Gegner in Deutschland doch hilflos.
Doch an diesem Tag ist alles anders. Irreal wirkte das Spiel in allen Belangen. Erinnerungen an das Rückspiel gegen Borussia Dortmund im letzten Jahr werden wach. Damals sicherte sich Real das Halbfinale trotz beängstigend schwacher Leistung im Signal Iduna Park. Aber das war auswärts, nicht im ehrwürdigen Estadio Santiago Bernabeu.
"Wir haben von Anfang an gemerkt, dass heute etwas geht", sagt Huntelaar. Real erkannte die Gefahr lange nicht, vielleicht erst nach dem 3:4. Da war es aber schon zu spät, die Angst griff um sich, am Ende kämpfe Real ums Überleben und hatte Glück.
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Real: Jeder macht sein Ding
"Wir haben sehr schlecht verteidigt und Schalke hat das gut ausgenutzt. Sie haben gut gespielt, waren aggressiv und haben nicht ganz unverdient diese Höhe an Toren geschossen", sagt Kroos. Er weiß, dass es auch mehr hätten sein können.
Der deutsche Nationalspieler war auch sein Sinnbild, warum es in dieser Phase der Saison bei Real nicht gut läuft. Er hat kaum eine Minute dieser Spielzeit verpasst. Die Last ist schwer auf den Schultern, die Beine heben sich nicht mehr so leicht. Als ihm Ancelotti mit dem lange verletzten Luka Modric zur Seite stellt, stabilisiert sich das Team ein wenig, das Spiel wird sicherer, der Ball läuft besser.
Aber es bleibt die abenteuerliche Defensivleistung, die nichts mit der kompakten Spielweise Madrids in der erfolgreichen, vergangenen Saison zu tun hat. Man hat das Gefühlt: Jeder Spieler macht hier sein Ding.
"Ein riesiges Spiel gemacht"
Als Damir Skomina abpfeift, fällt Ronaldo auf den Rücken. Marcelo schiebt sich das Trikot über das Gesicht. Benedikt Höwedes fährt sich mit beiden Händen durch die Haare, sammelt dann seine Männer ein und geht in die Kurve. Schalke hat gewonnen, ist aber ausgeschieden. "Wir haben Real Madrid geschlagen", fasst Leon Goretzka zusammen: "Dennoch bleibt das blöde Gefühl, dass wir ausgeschieden sind."
Eine Einordnung fällt so kurz nach der Partie schwer - auf beiden Seiten. Da ist Schalke. Ein junges Team, zuletzt besonders mit einer starken Defensive, aber einem Nackenschlag im Derby. Plötzlich haben sie vier Tore gegen Madrid erzielt, jetzt gilt es, das Gezeigte weiter umzusetzen und auch in der Liga anzugreifen.
"Wir haben ein riesiges Spiel gemacht. Wir waren mutig und haben uns von der Kulisse nicht beeindrucken lassen. Schade, dass wir nicht mehr belohnt worden sind. Das ist super ärgerlich", sagte Höwedes.
"Die Pfiffe sind mehr als verdient"
Dann ist da Real Madrid. Ein Team voller Topstars, das ohne Zweifel zum Favoritenkreis gehört, zuletzt aber aufgrund verschiedener Faktoren weit von seiner Form entfernt ist. Ancelotti wird sich einmal schütteln müssen, das Weiterkommen verbuchen und anschließend daran arbeiten, wieder zum Real Madrid aus 2014 zu werden.
"Wir haben sehr schlecht gespielt, das war nicht gut für das Image des Klubs. Die Pfiffe sind mehr als verdient", sagte Ancelotti auf der Pressekonferenz. Die Probleme sind aufgedeckt worden, allerdings nicht zum ersten Mal: "Ich habe noch immer Vertrauen in meine Strategie, weil ich weiß, dass die Spieler es können. Nur momentan tun sie es nicht."
Durchatmen heißt es jetzt im royalen Lager, sich konzentrieren auf die anstehenden Partien und Schritt für Schritt leere Reserven wieder auffüllen. Dann ist mit ihnen zu rechnen, das hat die vergangene Saison gezeicht, als trotz des Aussetzers in Dortmund am Ende der Titelgewinn stand.
Real Madrid - FC Schalke 04: Die Statistik zum Spiel