Der Geist von Juanito wurde nicht umgehend beschworen. Dabei wäre das Kauderwelsch der Real-Legende aus Spanisch und Italienisch auch beim Gegner an diesem Abend bestens zu verstehen gewesen. "Noventa minuti en el Bernabeu son molto longos", raunte Juanito den Spielern von Inter Mailand 1986 zu.
Aber die 1:2-Niederlage, die Madrid am Dienstag bei Juventus Turin kassierte, braucht noch keine historische Aufholjagd, kein Wunder, wie es in Europapokalspielen ja immer wieder erbracht werden muss. Nein, es reicht ein banales 1:0, um den Traum von der ersten Titelverteidigung in der Champions-League-Geschichte am Leben zu halten.
Bei den Blancos blieb zwar ein negatives Gefühl von diesem Abend, wie der eingewechselte Javier Hernandez erklärte, dafür war das Spiel der Madrilenen über weite Strecken einfach zu schwach. "Aber das Ergebnis ist nicht schlecht", resümierte James Rodriguez.
Real ohne Automatismen
Der Kolumbianer war es auch, der das Spiel noch vor Ende der ersten Halbzeit in eine andere Bahn hätte lenken können, setzte seinen Flugkopfball aus kurzer Distanz aber an die Latte. Der Chance ging der beste Spielzug Madrids voraus. Eine gute Ballzirkulation mit schnellen Pässen, präziser Verlagerung und Bewegung in die Tiefe.
Davor und danach war von dieser Klasse aber so gut wie nichts zu sehen. Auch wenn die Spieler hinterher nichts davon wissen wollten, wirkten sie in der Anfangsphase überrascht vom stürmischen Auftritt der Italiener. Real spielte wie ein unzusammenhängendes Gebilde ohne Automatismen und Abläufe.
"Wir haben nicht gut angefangen und zwischen den Linien zu viel Platz gelassen", sagte Trainer Carlo Ancelotti. "Das hat uns gleich ein Gegentor eingebracht." Aus Sicht des Italieners hätte das Spiel aber auch besser laufen können für seine Mannschaft und bezog sich dabei ebenfalls auf die Chance von James.
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Mehr Fehler als üblich
"Wir haben viel mehr Fehler gemacht als üblich. Wir hatten keine Präzision im Passspiel. Der Druck von Juventus war sehr hoch", sagte Ancelotti, dessen Analyse aber auch den Weg fürs Rückspiel aufzeigte. "Wenn wir den Ball kontrolliert haben, kamen wir zu Chancen. Wenn wir den Ball aber leichtfertig hergegeben haben, war Juventus im Konter gefährlich."
Den Schlüssel fürs Weiterkommen hat Real nach Ancelottis Meinung also selbst in der Hand. Deshalb hat der Trainer die Partie im Bernabeu zum Geduldsspiel erklärt. Das Ergebnis sei nicht gut, aber auch nicht so schlecht, als dass man keine Chance mehr auf das Finale in Berlin hätte. Klar ist, dass das Heimspiel gewonnen werden muss. Dafür müsse man aber nicht gleich in den ersten fünf Minuten sorgen.
Das schwankende Gefühl zwischen Ärger über die unnötige Niederlage und Selbstbewusstsein, das Duell im Rückspiel am kommenden Mittwoch zu drehen, war das vorherrschende Gefühl im Lager des Titelverteidigers.
Modric fehlt im Zentrum
Aber es blieben auch ein paar Zweifel zurück. Vor allem das Fehlen von Luka Modric im Mittelfeld wirkte sich destabilisierend auf das Madrider Spiel aus. Sergio Ramos war Toni Kroos keine Hilfe, immer wieder leistete sich der Spanier leichtfertige Ballverluste.
Der gelernte defensive Mittelfeldspieler Asier Illarramendi saß 90 Minuten auf der Bank, Sami Khedira war gar nicht mit nach Turin gereist. Und Ramos' Vertreter in der Innenverteidigung Raphael Varane hinterließ ebenfalls keinen guten Eindruck.
Im Angriff war Gareth Bale eine glatte Fehlbesetzung. Der Waliser hing in der Luft, wurde kaum ins Spiel eingebunden, konnte sein Tempo nicht einsetzen und kam nie in gefährliche Positionen.
"Bale hat nicht versucht seinen Mann zu stehen. Das war weder Fisch noch Fleisch, was er abgeliefert hat", analysierte Ex-ManUnited-Star Paul Scholes.
Schwer vorstellbar, dass Ancelotti auch im Rückspiel auf das 4-4-2 zurückgreifen wird, zumal mit Karim Benzema der etatmäßige Mittelstürmer zurückerwartet wird.
Nicht im Strafraum: Reals Passspiel im Spiel gegen Juventus Turin
Statistik spricht für Juventus
Sorgen könnte Real auch ein Blick auf die historischen Statistiken bereiten. Nach einer Hinspielpleite im Halbfinale schied Real in der Champions League bzw. im Landesmeistercup immer aus. Nach einer Niederlage in einem Hinspiel im Europapokal scheiterte Real gar in den letzten sieben Fällen. Zuletzt war dies im CL-Viertelfinale 2001/02 gegen den FC Bayern nicht der Fall (1:2 A, 2:0 H).
Auf der anderen Seite glänzt die Bilanz von Juventus. Die Italiener zogen in neun von zehn Fällen nach einem Halbfinal-Hinspielsieg ins Finale ein - einzige Ausnahme 1977/78 gegen den FC Brügge. Nach einem 2:1-Halbfinal-Hinspielsieg schaffte es Juve jeweils ins Finale (1993 und 1997).
In Anbetracht dieser Zahlen drängt sich die Frage auf, für wen die 90 Minuten im Bernabeu "molto longos" werden.
Juventus' Botschaft an Europa
Auch wenn James gleich nach Abpfiff in der gewohnt martialischen Art und Weise forderte, das Bernabeu müsse brennen und "wir für den Einzug ins Finale sterben", reist Juventus ohne große Scheu nach Madrid.
Wie sehr sich auch diese Generation der Bianconeri darauf versteht, das eigene Tor zu verteidigen, zeigte die Schlussphase, als Juventus sich mit einer Fünferkette rund um den eigenen Strafraum verschanzte und Reals recht plumpe Angriffsversuche souverän parierte. In Halbzeit zwei brachten die Madrilenen keinen Schuss aufs Tor von Gigi Buffon.
Der kam deshalb zu dem Schluss, dass "bei Tageslicht betrachtet das Resultat sehr gut für uns" sei. Der an diesem Abend nicht ganz so geniale Andrea Pirlo sprach sogar von einer "Botschaft an den Rest Europas".
Auf jeden Fall hat der italienische Meister allen Kritikern und Zweiflern gezeigt, dass er kein Freilos auf dem Weg nach Berlin ist. Vor der Rückkehr von Buffon und Pirlo an den Ort ihres größten Erfolgs mit der Nationalmannschaft, liegt noch ein Spiel im Bernabeu. Und dort können aus langen 90 noch längere 120 Minuten werden.
Juventus Turin - Real Madrid: Die Statistik zum Spiel