Mit sehendem Auge dem Abgrund entgegen

Von Sebastian Schuch
Bayer Leverkusen steht im Rückspiel bei Atletico Madrid vor einer Mammutaufgabe
© getty

Nach der bitteren 2:4-Pleite gegen Atletico Madrid steht Bayer Leverkusen vor dem erneuten Achtelfinal-Aus in der Champions League. Die Werkself lief mit ihrer offensiven Spielweise von Beginn an ins offene Messer und machte zu viele Fehler. Es fehlte die ordnende Hand im Spiel. Spieler und Verantwortliche trauern einer verpassten Chance hinterher.

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"Wir müssen eine sehr gute defensive Stabilität haben, um die Konter verteidigen zu können", hatte Roger Schmidt auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gesagt.

Schon in der ersten Hälfte missachteten seine Mannen auf dem Platz diese Aussage mehrfach und konnten froh sein, nur mit einem 0:2 in die Kabine zu gehen. Alleine Rekordtorschütze Antoine Griezmann hätte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Tore auf dem Konto haben können, wenn nicht gar müssen.

Von Beginn an zog die Werkself das gewohnte Offensivspiel auf und lief ins offene Messer. Bayers Herangehensweise war ein gefundenes Fressen für das madrilenische Umschaltspiel.

Die ordnende Hand fehlt

Kevin Gameiro und Griezmann konnten sich wohl keinen dankbareren Gegner wünschen. Da sowohl Benjamin Henrichs auf rechts als auch Wendell auf links sehr angriffslustig spielten, verblieben Ömer Toprak und Aleksandar Dragovic zumeist als einzige Absicherung.

Im Eins-gegen-Eins oder Zwei-gegen-Zwei war das Abwehrduo dem französischen Doppelsturm in nahezu allen Belangen nicht gewachsen und wurde mehrfach alleine gelassen. Bayer fehlte vor allem eines: die ordnende Hand im Spiel.

Diese war im bisherigen Saisonverlauf, wenn er fit war, Lars Bender. Mit der Rückkehr des Kapitäns vor knapp zwei Wochen gegen Eintracht Frankfurt entbrannte neue Euphorie - der Glaube an die neuerliche Qualifikation für die Königsklasse war dank zweier überzeugender Siege wieder vorhanden.

Ausgerechnet in einem wegweisenden Spiel wie gegen Atletico fiel der 27-Jährige erneut aus.

Fremdkörper Aranguiz

So durfte Charles Aranguiz von Beginn an ran und wurde seiner Rolle als defensiver Stabilisator vor der Viererkette an diesem Abend nicht gerecht.

Nur elf Zweikämpfe - sieben davon entschied er für sich - bestritt der Chilene in 90 Minuten. Von den Feldspielern in der Startelf hatte nur Toprak (sieben) weniger. Dabei ist weniger der statistische Wert das Problem, sondern dass Aranguiz zu häufig mit einem langen Ball Atleticos überspielt oder nicht in das Angriffsspiel Bayers eingebunden wurde.

Da sich die beiden Außenverteidiger im Hurra-Stil auch nach dem 0:2 nicht einfangen ließen, nahm das Unheil seinen Lauf. Hinzu kamen kapitale Aussetzer in der Defensive.

Komplettausfall Dragovic

"Wir haben heute nicht unsere allerbeste Tagesform gehabt und haben Fehler gemacht, die zu zwei Gegentoren geführt haben", gab Schmidt nach der Partie bei Sky seine Sichtweise an und dürfte damit vor allem Dragovic gemeint haben.

Zwar wollte der 49-Jährige die Niederlage "nicht an Drago festmachen" und es sei "nicht so einfach gegen diese Spieler", dennoch wird im Zusammenhang mit diesem Spiel in den meisten Fällen auch der Name des Österreichers genannt werden - zu eklatant waren dessen Fehler vor dem zweiten und dritten Gegentreffer.

Auch bei den Atleti-Toren Nummer eins und vier warf Dragovic' Stellungsspiel und Zweikampfverhalten Fragen auf, wenngleich er jeweils nur das letzte Glied einer Fehlerkette war.

"Zumindest Unentschieden" spielen

Dabei hätte die Partie gleich mehrfach einen anderen Verlauf nehmen können. Was wäre geschehen, wenn Bayer unmittelbar vor der Pause einen berechtigten Elfmeter bekommen hätte? Was, wenn Schiedsrichter Collum beim Stand von 1:2 auf Frei- statt Strafstoß entschieden hätte? Womöglich wäre das Spiel durch diese beiden Szenen zugunsten der Leverkusener gekippt.

Das hätte auch mit den getroffenen Entscheidungen passieren können, wenn sich Leverkusen dem Spielverlauf angepasst hätte. Atletico war in der BayArena nicht das Bollwerk vergangener Tage. Die Rojiblancos ihrerseits durchaus anfällig, vor allem bei flachen Flanken brannte es teils lichterloh.

"Wir hatten heute gute Chancen, das Spiel zu gewinnen oder zumindest Unentschieden zu spielen", beschrieb Julian Brandt die Szenerie nach dem Spiel treffend und auch Torschütze Karim Bellarabi meinte, es sei "mehr drin" gewesen.

Schema F ist nicht genug

Die Einschätzung der beiden trifft dabei durchaus zu. Mit 62 Prozent Ballbesitz war die Werkself klar feldüberlegen. Nach dem Anschlusstreffer zu Beginn der zweiten Hälfte keimte schnell der Glaube an ein Comeback auf. In letzter Konsequenz spielte Bayer noch einen Tick offensiver.

Dass Kevin Gameiro nur zwei Minuten später den Ball beinahe unbedrängt ans linke Kreuzeck drosch, hatte eigentlich der letzte Weckruf für Bayer sein sollen, die gnadenlos offensive Herangehensweise noch einmal zu überdenken.

Statt gegen eine verunsicherte Abwehr geduldig auf die sich bietenden Chancen zu warten, rannte Bayer aber weiter an. Ein Plan B oder gar C war offenbar nicht vorhanden.

In dieser Phase, wie auch nach dem erneuten Anschluss, fehlte ein Spieler, der auf den Ball tritt, der einen einfachen Querpass spielt, das Spiel beruhigt und klare Anweisungen gibt. Es fehlte ein Spieler wie Lars Bender.

Irgendwann kommt das Rückspiel

Stattdessen zogen die Schmidt-Schützlinge keine Lehren aus den ersten 50 Minuten der Partie, kassierten zwei weitere Gegentore und müssen es sich selbst ankreiden, eine bessere Ausgangslage leichtfertig verspielt zu haben.

Mit dem Rückspiel will sich Schmidt vorerst noch nicht befassen: "Natürlich sind wir enttäuscht, dass wir verloren haben, aber es gab sicher auch bemerkenswerte Minuten, in denen sich diese junge Mannschaft extrem gewehrt hat. Das nehmen wir mit. Dann kommt irgendwann das Rückspiel, aber da möchte ich jetzt noch gar nicht hingucken."

Vorerst warten mit Mainz 05, Dortmund und Bremen drei unangenehme Aufgaben auf die Werkself, die bereits über die Bewertung der Saison entscheiden könnten. In drei Wochen soll die Tagesform dann auch in der Königsklasse wieder passen.

Zumindest Völler glaubt an das Wunder im Vicente Calderon: "Ich habe im Fußball schon so viel erlebt. Wir werden nicht nach Madrid fahren, um uns freiwillig zu ergeben." Eine Hinspiel-Niederlage mit zwei Toren im eigenen Stadion konnte in der Champions League allerdings noch nie aufgeholt werden. Vielleicht wird Bender ja zum Faktor X.

Bayer Leverkusen - Atletico Madrid: Die Daten zum Spiel