Michael Ballack, Mario Gomez oder Andrej Arschawin: Die Spieler stehen im WM-Quali-Spiel zwischen Russland und Deutschland (Sa., ab 16.30 Uhr im LIVE-TICKER) im Vordergrund. Doch die heimlichen Stars werkeln im Hintergrund. SPOX vergleicht die Trainer und stellt fest: die Sbornaja ist im Vorteil.
Ein dunkles Kapitel haben beide in ihrer Vita: Es ist der Karlsruher SC. Guus Hiddink und Joachim Löw haben große Karrieren hingelegt oder sind auf dem besten Weg dorthin. Aber an Karlsruhe erinnern sich beide nur noch sehr ungern.
Löw war nach seinem erfolgreichen Intermezzo in der Türkei Anfang des Jahrtausends als Retter in den Wildpark gekommen. Nach nur einem lumpigen Sieg aus 18 Spielen scheiterte er kläglich, der KSC stieg noch im selben Jahr aus dem Profi-Fußball ab.
Sechs Jahre zuvor erlebte Hiddink an selber Stelle seine bis heute schwärzeste Stunde: Als Tabellenführer der Primera Division und mit einem 3:1-Hinspielsieg reiste der Niederländer mit dem FC Valencia im UEFA-Cup an und verlor 0:7.
Impulse von der Bank mitentscheidend
Zwei Episoden, die eher zufällig einen gemeinsamen Nenner haben. Vor dem vorentscheidenden WM-Qualifikationsspiel Russland gegen Deutschland am Samstag (ab 16.30 Uhr im LIVE-TICKER) standen bisher immer die Spieler und deren Befindlichkeiten im Vordergrund.
Die heimlichen Stars aber werkeln im Hintergrund. Nicht nur Ballack, Arschawin, Gomez oder Pawljutschenko entscheiden die Partie am Samstag. Von entscheidender Bedeutung werden die Impulse von der Bank sein. Ein Vergleich der beiden Trainer und ihrer Philosophien.
Die Ausgangslage:
Obwohl die Russen gewinnen müssen, ist der Druck auf Guus Hiddink relativ moderat. Niemand in Russland würde den Niederländer in Frage stellen, würde die Sbornaja als Gruppenzweite in die Playoffs müssen.
Hiddinks Beliebtheitsgrad in der Bevölkerung erreicht ungeahnte Höhen: Eine Umfrage der "Moscow News" sieht den 62-Jährigen derzeit als beliebtesten Ausländer der russischen Föderation. 47 Prozent der Befragten würden sich Hiddink als Staatschef wünschen - und nicht Medwedew oder Putin.
Der Druck auf Löw ist ungleich höher. Noch nie ist Deutschland sportlich in einer WM-Qualifikation gescheitert, zuletzt war der DFB vor 41 Jahren nicht mehr bei einem Großereignis vertreten. 1967 scheiterte Deutschland in der Qualifikation für die EM ein Jahr später. Auch wenn Präsident Dr. Theo Zwanziger dem Bundestrainer auch im schlimmsten Falle eine Art Jobgarantie ausstellte, dürfte klar sein: Scheitert Löw, dann wird eine weitere Zusammenarbeit fast unmöglich.
Die Karriere:
Hiddink war ein eher durchschnittlich begabter Spieler mit Stationen in Eindhoven, Washington, San José und Nijmegen - also verdingte er sich schnell als Trainer. Der Durchbruch gelang 1998, als er mit dem PSV den Europapokal der Landesmeister holte. Seitdem geht es im Prinzip nur bergauf, als Nationaltrainer schaffte er es schon fünfmal, sich für ein großes Turnier zu qualifizieren.
Löw kam 1997 quasi aus dem Nichts zum Cheftrainer-Job beim VfB Stuttgart, packte seine Chance aber beim Schopf. Dennoch musste er nach einer erfolgreichen Saison gehen, weil er Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder nicht glamourös genug war. Nach Stationen in der Türkei und Österreich kehrte er nach Deutschland zurück. 2004 holte ihn Jürgen Klinsmann als Co-Trainer in sein Team, zwei Jahre später wurde er Cheftrainer.
Die Geschichte:
Hiddink hat den schlafenden Riesen wachgeküsst. Seit der Niederländer im Sommer 2006 seinen Job angetreten hat, hat sich aus einem darbenden Haufen talentierter Spieler eine funktionierende Mannschaft gebildet. Hiddink hat als erster Trainer seit Perestroika und Glasnost die Politik voll und ganz hinter sich gebracht, das Volk und die Spieler lieben ihn. Die Sbornaja schwebt auf einer Welle der Begeisterung, ähnlich wie Deutschland damals nach dem Sommermärchen.
Löw führt Klinsmanns Werk in seinem Sinne fort und will aus einer auf Emotionen basierenden Mannschaft eine spieltaktisch reife und ausgewogene Mannschaft formen. Das Vorhaben schien im März 2007 beim Auswärtssieg in Tschechien schon am Ziel angelangt, seitdem aber unterliegt sein Team immer wieder starken Leistungsschwankungen.
Die Einflüsterer:
Sascha Borodjuk und Urs Siegenthaler. Borodjuk ist der Mittelsmann zwischen Hiddink, der kein Wort russisch spricht, und der Mannschaft. Auf das Wort des Ex-Schalkers vertraut Hiddink, er ließ und lässt sich Mentalität, Kulturkreis, die russische Denkweise und seine Nationalität erklären. So findet er Zugang zu den Spielern.
Löws rechte Hand ist vordergründig Hansi Flick. Im Hintergrund aber zieht Siegenthaler die Fäden. Der Schweizer ist Löws Borodjuk, allerdings zumeist in anderer Rolle. Bei Siegenthaler holt sich Löw alle Informationen über den Gegner ein und legt sich im Dialog seine Taktik zurecht. Die Sitzungen mit Siegenthaler und Flick dauern nicht selten mehrere Stunden. Siegenthaler ist das Mastermind aller taktischen Schachzüge.
Hiddink vs. Löw, Teil II: die Philosophie und der Spezialkniff
Die Philosophie:
Guus Hiddink, das Chamäleon. Allein als Nationaltrainer hat er schon vier verschiedene Stationen in der Vita stehen. Und überall hatte er Erfolg. Sein Erfolgsgeheimnis: "Ich lasse jeder Mannschaft ihre Stärken und arbeite lieber an den Schwächen." Im Klartext heißt das: Hiddink krempelt ein Team nicht um. Er belässt Strukturen, er ist flexibel und ändert lieber eigene Gewohnheiten und Ansichten.
Sein Fitness-Trainer Raymond Verheijen beschriebt es so: "Guus ist einzigartig. Er passt sich seiner Umgebung und den Spielern an."
Diese Anpassungsfähigkeit auf der einen und seine natürliche Autorität auf der anderen Seite machen ihn zu einem der begehrtesten Trainer der Welt. Im konkreten Fall hat er den Überwachungswahn des russischen Verbands gekappt, der seine Spieler mehr oder weniger auf Schritt und Tritt verfolgte.
"Wir haben jetzt viel mehr Freiheiten bei ihm", schwärmt Andrej Arschawin. "Im Training und im Spiel verlangt er Disziplin, aber außerhalb werden wir nicht mehr ständig kontrolliert."
Simple, aber nachhaltige Psychologie
Die Spielfreude der Russen stopfte Hiddink behutsam in ein ausgewogenes taktisches Korsett, das auf der Balance zwischen Defensive und Offensive beruht. Und sehr stark auch auf technisch anspruchsvollem Konterfußball mit schnellem Umschalten von Defensive auf Offensive. In der Beziehung ist er längst dort angekommen, wo Jogi Löw noch hin möchte.
Hiddink steht für eine simple, aber offenbar auch nachhaltige Psychologie. Mittelfeldspieler Igor Semschow: "Hiddink hat uns beigebracht, auf unsere Kräfte zu vertrauen. Er sagt immer: 'Ihr seid stärker. Geht raus und habt keine Angst.'"
So wie Hiddink jetzt die Russen, hat er auch schon Südkorea, Australien und seine Niederländer nach vorne gebracht. Und das immer mit völlig unterschiedlichen Spielausrichtungen. In einer Zeit, in der sich jeder Trainer gerne seine spezielle "Philosophie" auf die Fahnen schreibt, eine unglaubliche Leistung.
Löw bleibt seiner Linie treu
Ganz anders ist der Fall bei Löw. Der hat in der kleinen Schweiz sein Handwerk gelernt, zu einer Zeit, in der sich Deutschland und seine Trainer noch im Glanz des WM-Titels von 1990 suhlten und Entwicklungen schlicht verschliefen.
Nach dem Blitz-Start in Stuttgart erlosch sein Stern schnell wieder, seine Spielauffassung blieb über die Jahre aber immer dieselbe. Wenn auch in mittlerweile leicht angepasster Form.
"In Stuttgart hatte ich noch kein klares Bild davon im Kopf, wie ich spielen lassen wollte", sagt Löw. "Heute glaube ich, dass ich das Gesamtsystem vor Augen habe. Ich weiß jetzt, was man alles braucht, um erfolgreich schönen Fußball zu spielen."
Der Löw-Fußball ist immer ein technisch anspruchsvoller, der auf Agieren basiert und nicht auf Reagieren. Und er basiert auf dem Zusammenspiel des Kollektivs. Er will keinen reinen Athletik- und Kampf-Fußball, wie ihn Deutschland jahrzehntelang erfolgreich praktizierte. Er führt das Klinsmann-Erbe fort und krempelt weiter um.
Ein entscheidender Nachteil ist dabei aber, dass Löw, anders als Hiddink, auch hinter der A-Nationalmannschaft Strukturen weiterführen und erneuern soll. Zwar nicht im Alleingang, aber als erster Trainer des Landes doch als Speerspitze einer Gilde.
"Meine Ziele für 2009 sind: Die WM-Qualifikation schaffen, junge Spieler einbauen, die Infrastruktur verbessern, Nachwuchsarbeit optimieren. Es gibt schon noch Bereiche, wo wir neue Maßstäbe setzen können und wollen". so Löw.
Der Spezialkniff:
Hiddink hat in unzähligen Schlachten bewiesen, dass er ein unberechenbarer Fuchs ist. Mit Südkorea gegen Italien und Spanien (2002), mit Eindhoven in den CL-Halbfinals gegen Milan (2005), mit Australien gegen Italien (2006), mit den Russen gegen die Niederlande (2008) und zuletzt mit Chelsea gegen den FC Barcelona.
Auch wenn sich der Erfolg nicht immer einstellte, beziehungsweise in letzter Sekunde zerstört wurde, war er mit dem jeweiligen Außenseiter immer das bessere Team.
Hiddink hatte für den jeweiligen Gegner das richtige Rezept parat und dürfte so auch gegen Deutschland neben dem Kunstrasen für die größten Ängste sorgen. Der Niederländer hat seine Taktik "schon im Kopf", wie er dem russischen Fernsehen etwas geheimnisumwittert erzählte.
Scolari ausgecoacht
Löw dagegen hat bisher erst einmal bewiesen, dass er ein Spiel auch von der Bank aus mitentscheiden kann. Im EM-Viertelfinale gegen Portugal düpierte er Felipe Scolari. Allerdings musste er beim selben Turnier auch herbe Niederlagen einstecken: Gegen Kroatien und gegen die Spanier, als beide Gegner den Deutschen klar überlegen waren.
In Moskau deutet fast alles darauf hin, dass sich der Bundestrainer für das 4-2-3-1 entscheidet, das in den letzten beiden Spielen gegen Aserbaidschan und Südafrika einstudiert wurde. Hoffentlich hat Guus Hiddink nicht schon längst das Gegengift dafür gefunden...
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