Die auffälligste Erscheinung fehlte am Samstagmorgen. Per Mertesacker blieb dem Training der deutschen Nationalmannschaft fern, der Lange legte eine individuelle Einheit im Teamhotel Terre Blanche ein.
Eine Randnotiz, mehr war Mertesackers Spezialprogramm nicht. Ansonsten tummelten sich auf der neu errichteten Anlage in Tourrettes, für rund 2,3 Millionen Euro aus dem Boden gestampft, die verbliebenen 16 Nationalspieler und absolvierten eine lockere Einheit mit Spiel- und Passformen.
Der Bundestrainer übte fleißig mit, korrigierte viel. Hier in Südfrankreich geht die Vorbereitung auf die Europameisterschaft in zwei Wochen in die entscheidende Phase, Löw erinnert seine Spieler permanent an seinen Katechismus.
Löw mit Gedanken immer in München
Maximal zwei Kontakte bleiben zur Ballverarbeitung und -weitergabe, akzeptiert werden nur hart getretene Flachpässe. Die Sorgenkinder Miroslav Klose (nach Knöchelverletzung), Benedikt Höwedes (nach Wadenproblemen) oder Lukas Podolski (nach muskulären Problemen und Abstieg mit dem FC) machten einen frischen Eindruck, daneben waren die drei angereisten Torhüter Tim Wiese, Ron-Robert Zieler und Marc-Andre ter Stegen zusammen mit Bundestorwarttrainer Andreas Köpke schon dabei, den einen Streichkandidaten unter sich auszumachen.
Anders als vor zwei Jahren in Südtirol blieb der Tross bisher von schwerwiegenden Verletzungen verschont, damals sorgten fast täglich neue Hiobsbotschaften für permanenten Aufruhr innerhalb der sportlichen Leitung.
Vielmehr war der Bundestrainer mit seinen Gedanken in den letzten Tagen auch immer im fernen München. Die Frage, in welcher mentalen Verfassung er mit seinen acht Bayern-Spielern wird rechnen können, trieb Löw um. Eine Niederlage der Bayern, das hatte Löw freimütig gestanden, würde seine Planungen nachhaltig erschweren.
Bayern-Pleite bitterer Tiefschlag
Für Spieler wie Philipp Lahm oder Bastian Schweinsteiger, aber auch andere Bayern-sozialisierte Leistungsträger wie Thomas Müller, war die Partie gegen den FC Chelsea am Samstagabend emotional das wichtigste Spiel ihrer Karriere. Das Scheitern im eigenen Wohnzimmer kommt jetzt einem kaum erlebten Tiefschlag gleich.
"Bei einer Niederlage wäre die Enttäuschung groß und wir müssten ihnen noch zwei drei Tage mehr freigeben, damit sie den Kopf freikriegen und das alles verarbeiten können", hatte Löw vor einigen Tagen auf Sardinien bereits gesagt. Also hoffte er vehement auf einen Münchener Sieg und den gegenteiligen Effekt. "Die beste Mannschaft in Europa, das wäre super für unsere Spieler. Sie wären motiviert, sie kämen schnell in den Rhythmus rein, weil die Motivation überwiegt."
Leider taten ihm die Spieler nicht den Gefallen, weshalb die Vorbereitung nun unter einem noch schlechteren Stern steht - und das EM-Turnier gleich mit.
Das Trainerteam ist nun noch mehr als sonst als mentaler Aufbauhelfer gefordert, Psychologe Hans-Dieter Hermann wird eine entscheidende Figur der nächsten Tage werden, sobald die Münchener Spieler endlich auch vor Ort sind. Auch wenn Hermann seine Arbeit beim DFB auf eine mittelfristige Konzeption ausgerichtet hat. Wunderdinge sind vom 52-Jährigen nicht zu erwarten. Trotzdem wird es sicherlich das eine oder andere Gespräch mit den betreffenden Spielern geben.
Reus vor Debüt im Sturmzentrum
Ab jetzt dürften die Planungen noch schwerer von der Hand gehen, vielleicht wollte sich Löw deshalb davor auch schon nie so recht in die Karten blicken lassen. Die auf Sardinien demonstrativ zur Schau gestellte Leichtigkeit ist Teil seiner Diplomatie. Tiefenentspannt sei er, trotz der zerfransten Vorbereitung, der bisher ja neben den Bayern-Spielern auch noch Sami Khedira und Mesut Özil von Real Madrid fernbleiben mussten.
"Natürlich bereitet uns die Vorbereitung ein paar Schwierigkeiten mehr als in den vergangenen Jahren, aber ich bin absolut entspannt. Tiefenentspannt", sagte Löw also und machte lieber einen kleinen Nebenkriegsschauplatz auf.
Marco Reus würde er "gerne ganz, ganz vorne sehen, im Sturm", sagte der Bundestrainer mit Blick auf Reus' Handlungsschnelligkeit und dessen eingestreuten Überraschungsmomente.
"Wenn ein Gegner mit allem verteidigt, ist er in unserem Kombinationsspiel auch anspielbar in der letzten Linie. Er kann sich wahnsinnig schnell drehen, ist wendig, beweglich und abschlussstark. Er hat das noch nie gespielt, aber das ist eine Überlegung wert. Ich bin mir relativ sicher, dass das ganz gut funktioniert bei uns."
Nur wenig Zeit für Automatismen
Das Schöne an den bisherigen Einheiten war ja die individuelle Betreuung, die fast jeder Spieler für sich beanspruchen konnte. In Italien kamen phasenweise sieben Trainer auf neun Spieler. Eine gute Voraussetzung, um an den unterschiedlichen Ausgangsniveaus zu arbeiten, besonders in körperlicher Hinsicht.
Was allerdings kaum möglich ist, sind gezielt einstudierte Abläufe im großen Rahmen. Für die taktische Feinabstimmung blieb bisher kein Raum, Abläufe wie die in der Rückwärtsbewegung, vor einem großen Turnier traditionell die letzte große Aufgabe, müssen in bestenfalls sechs oder sieben Trainingstagen erprobt und einstudiert werden.
Als Ausrede will Löw die Vorbereitung mit Ecken und Kanten aber von vornherein nicht gelten lassen. "Die Vorbereitung wird letztendlich ganz gut hinhauen - mit allen Hürden, die wir haben. Unsere Mannschaft wird gut präpariert ins Turnier gehen."
Der Spielplan der EM 2012