Magnet im Mittelfeld

Von Stefan Rommel
Philipp Lahm hat sich beim FC Bayern als Mittelfeldspieler ausgezeichnet
© getty

Die Bayern hievt Philipp Lahm in seiner Rolle im defensiven Mittelfeld auf eine neue Ebene. Bundestrainer Joachim Löw plant nur im Ausnahmefall mit seinem Kapitän im Zentrum. Dabei würden die Indizien vor dem WM-Quali-Spiel gegen Irland (Fr., 20.30 Uhr im LIVE-TICKER) dafür sprechen.

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Vor knapp drei Wochen ist das Unbegreifliche dann doch geschehen: Der FC Barcelona hatte in einem Pflichtspiel nach über fünf Jahren weniger Ballbesitz als der Gegner generiert. 315 Spiele lang dominierte Barca sein Gegenüber, einmal kamen die Katalanen in der Champions League gegen Celtic auf - je nach Statistikanbieter - unfassbare 83 bis 89 Prozent.

Mit dem Aufstieg von Pep Guardiola von der Amateur- zur Profimannschaft im Jahr 2008 startete Barca seine Serie - bei den Bayern setzte der Coach nach seiner Auszeit diese Reihe nahtlos fort. Wenn man so will, ist Guardiola in dieser Disziplin weiter ungeschlagen.

Eine Obsession wird Guardiola deshalb nachgesagt. Dabei ist das Ballbesitzspiel in erster Linie sein wichtigstes Mittel zum Zweck. Ein Instrument, um das Spiel und die Leistung seiner Mannschaft planbarer zu machen.

Guardiola schwärmt von Lahm

Philipp Lahm von der Position des rechten Verteidigers ins zentrale defensive Mittelfeld zu ziehen, ist dabei eine wichtige Maßnahme. Zwar rückt Bayerns Kapitän auch deshalb ins Zentrum, weil mit Thiago und Javi Martinez zwei etatmäßige Mittelfeldspieler derzeit noch verletzt sind. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Recht schnell hat Guardiola erkannt, wen er da bei seiner zweiten Station als Profitrainer betreuen und verbessern darf. "Philipp Lahm ist für mich der intelligenteste Spieler, den ich je in meiner Karriere trainiert habe", sagte Guardiola nach rund sechs Wochen der gemeinsamen Arbeit mit dem Spieler.

Wie reagiert Löw?

Die Saison hat zwei elementare Fragen aufgeworfen: Bleibt Lahm bei den Bayern eine dauerhafte Lösung für das zentrale Mittelfeld? Und wie wird Joachim Löw im Hinblick auf die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr über seinen Kapitän verfügen?

101 Länderspiele hat Philipp Lahm seit 2004 für den Deutschen Fußball Bund absolviert. 99 davon als rechtes oder linkes Glied der Viererkette. Nur bei einem Freundschaftsvergleich gegen England vor über sechs Jahren steckte Löw seinen Musterknaben ins defensive Mittelfeld. Davor hatten dem Bundestrainer gleich mehrere Mittelfeldakteure verletzt abgesagt. Und einmal sogar in einem Pflichtspiel - vor zwei Jahren in der EM-Qualifikation gegen Aserbaidschan. Zum losen Antesten.

Als gezielte Aktion lassen sich die Ausreißer nicht verkaufen. Und trotzdem kokettierte Löw vor zwei Wochen mit einer Versetzung Lahms in die Zentrale. Am Mittwoch relativierte er seine Einlassungen. "Zuerst mal plane ich mit ihm als rechter Verteidiger", sagte der Bundestrainer. "Lahm ist der beste Außenverteidiger der Welt. Da sind wir insgesamt nicht so gut besetzt. Ich will mir keine andere Baustelle aufmachen, außer es fallen andere Mittelfeldspieler aus.

Lahms Statistik spricht fürs Mittelfeld

Im ersten Schritt bleibt Löw bei seiner Ordnung und seinen Positionen. Aber Löw weiß auch: Lahm ist sein zuverlässigster Spieler und sehr vereinfacht gesagt kann es kaum ein Nachteil sein, dem zuverlässigsten Spieler in der wichtigsten Zone des Spielfeldes noch öfter den Ball zu geben. Die Kennzahlen der laufenden Saison jedenfalls bestätigen die These, dass Lahm auf der Außenbahn nahezu verschenkt wirkt und in der Zentrale noch mehr Einfluss auf das Spiel seiner Mannschaft nehmen kann.

An den ersten drei Spieltagen kam Lahm als rechter Verteidiger und Starter in einem Bundesligaspiel auf durchschnittlich 80 Ballkontakte, er spielte 62 Pässe und leistete sich dabei sieben Fehlpässe. 20 Sprints und 59 intensive Läufe fraßen eine Menge körperlicher Energie. Als Sechser im defensiven Mittelfeld kommt Lahm dagegen auf nur noch 14 Sprints und 51 intensive Läufe.

Noch größer sind die Unterschiede aber im Passspiel. Die Ballkontakte schraubte er auf 96 pro Spiel nach oben, spielte 81 Pässe - also 19 mehr als auf der Außenbahn - und leistete sich trotzdem nur sieben Fehlpässe. Wie schnell und nachhaltig er sein eigenes Niveau dabei steigern konnte, zeigt die kontinuierliche Verbesserung aller relevanten Werte in den vier Partien im Mittelfeld.

Von 75 über 90, dann 102 und gegen Leverkusen sogar mit 115 Ballkontakten nahm Lahm Einfluss auf das Bayern-Spiel. Seine Passstatistik weist die Reihe 63-75-85-102 gespielter Pässe aus. Die gesamte Leverkusener Mannschaft kam gegen die Bayern auf 171 Zuspiele.

Löw fehlt die Zeit

Im abgeänderten Bayern-System ist Lahm die feste Konstante im Mittelfeld-Dreierblock Lahm-Schweinsteiger-Kroos. Die beiden Flügelspieler halten en gros ihre Position, Schweinsteiger und Kroos dürfen sich frei und variabel bewegen. Lahm ist der Magnet, in dessen Feldlinien sich die anderen Spieler einreihen.

Unabhängig von Lahms Versetzung hat Guardiola das Spiel seiner Außenverteidiger variiert, die öfter ihre Position in der Vertikalen verlassen und ins Zentrum ziehen. Die Umbaumaßnahmen der Bayern sind zwar relativ schnell vonstatten gegangen; konnten allerdings auch im täglichen Training einstudiert werden.

Diese Fülle an Zeit hat Joachim Löw nicht. Zudem hält er es nicht für nötig, ein Dreivierteljahr vor Beginn einer WM-Endrunde quasi als Kollateralschaden der umfunktionierten Mittelfeldreihe seine Außenverteidiger zu einem alternativen Spielstil aufzufordern. Trotzdem ist der Gedanke, seinen Kapitän dauerhaft näher an den Schmelztegel des Spiels zu ziehen ein sehr verlockender.

Wie gemacht fürs Mittelfeld

Dafür sind Lahms Fähigkeiten auf der Position schlicht zu überragend. Spielintelligenz, Druckresistenz, Ballsicherheit, Timing, Antizipationsgabe, Zweikampfverhalten, aktive Spielweise: Lahm bringt alle von Löw explizit am Mittwoch geforderten Eigenschaften im Übermaß mit.

Bis auf eine durchaus auch notwendige Kopfballstärke in bestimmten Spielsituationen. Dazu kommt, dass er als Kapitän auch die Soft Skills anders einbringen kann. Er ist schneller an den Brennpunkten, quasi immer involviert, erreicht alle Mannschaftsteile auch verbal reibungsloser.

Bei den Bayern funktioniert das nahezu perfekt. Und in der Nationalmannschaft? "Philipp macht das überragend auf der Sechs bei Bayern München. Wenn man ganz genau hinschaut, ist es nur logisch, dass es mich dann ein bisschen weiter nach vorne zieht", sagt Schweinsteiger.

Auf die Nationalelf könne man das Münchner System indes nicht ganz so einfach übertragen, findet Schweinsteiger: "Bayern und die Nationalmannschaft sind nicht ganz zu vergleichen, das System und die Spielertypen sind ein wenig anders. Wir versuchen natürlich auch hier das Spiel zu dominieren, besser zu sein, als der Gegner, aber es nicht ganz zu vergleichen."

Wo hilft Lahm mehr?

Im (defensiven) Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft besteht längst ein Überangebot an qualitativ hochwertigen Spielern. Auf den Außenpositionen dagegen mangelt es auch nach Jahren noch. Insofern erscheint eine Rochade Lahms ins Mittelfeld als unüberlegte Maßnahme.

Nur sind die Fragen nicht, wer im Mittelfeld weichen (Khedira, Schweinsteiger, Gündogan) und wer auf den Außen (Großkreutz, Lars Bender, Sebastian Jung) nachrücken könnte. Die entscheidende Frage ist, inwieweit Lahms Versetzung die Mannschaft in ihrer Gesamtheit weiterbringen könnte. Und da erscheint die Idee durchaus plausibel.

Läuft für die DFB-Auswahl alles nach Plan, dann stehen in diesem Jahr noch drei Partien ohne großen sportlichen Gegenwert an. Gewinnt Löws Mannschaft am Freitag gegen Irland, ist die Qualifikation für die WM in Brasilien geschafft. Dann wäre das letzte Gruppenspiel in Schweden bereits das erste Vorbereitungsspiel auf die WM. Und im November folgten zwei Testspiele gegen Italien und England.

Dann kann der Bundestrainer proben. Sollte ihm nicht gefallen, was er sieht, kann er jederzeit ja wieder zurückrotieren. Das Gute an Philipp Lahm ist ja, dass man ihn von heute auf morgen auch wieder zurückverschieben oder nach links auslagern könnte - ohne Bauchschmerzen zu bekommen.

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